Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
untergeht“, sagte Soren. „Vielleicht gelingt es ja den alten Legenden, uns vor dem vollen Schein zu schützen.“
Gylfie machte ein erstauntes Gesicht. Was diese Schleiereulen immer für verrückte Einfälle hatten!
Soren begann: „Vor langer, langer Zeit, ehe es noch Eulenkönigreiche gab, in einer Zeit nicht enden wollender Kriege, erblickte im Land der Nordwasser ein Eulenküken das Licht der Welt. ‚Hoole‘ nannten seine Eltern ihren kleinen Sohn. Manche behaupten, schon als er geschlüpft sei, habe sich ein Zauber gezeigt. Wie dem auch sei, Hoole besaß von Anfang an ungewöhnliche Fähigkeiten. Man weiß, dass er andere Eulen zu großen Taten anspornte und dass ihn seine Miteulen als ihren König anerkannten, auch wenn er keine goldene Krone trug. Denn seine Hilfsbereitschaft, seine Rechtschaffenheit und sein Mut adelten ihn und kamen einer Krone gleich. Er schlüpfte in einem Wald aus hohen Bäumen, in eben jenem Augenblick, da das alte Jahr ins neue übergeht, und der Wald war in jener klirrend kalten Nacht von Eis bedeckt.“
Mit gedämpfter, gefühlvoller Stimme erzählte Soren die erste Geschichte über Ga’Hoole, die da heißt: „Hooles frühe Jahre“. Die beiden Eulenkinder schöpften wieder Mut, ihr Verstand kehrte zurück und ihre Mägen erwachten wieder zum Leben.
Prächtig!
„Mir scheint, die Strafe tut endlich ihre Wirkung“, wandte sich die Kreischeule Spoorn an die Ablah-Generalin Skench.
Von zwei Felsvorsprüngen hoch über der Strafzelle beobachteten die beiden Gylfie und Soren. Sie bekamen nicht mit, dass Soren leise eine Geschichte erzählte, auch zogen die Eulenkinder nicht vorschriftswidrig die Köpfe ein, rührten sich überhaupt kaum vom Fleck. Als der Mond endlich unterging, flogen Skench und Spoorn in die Zelle hinunter und sahen den beiden Jungvögeln prüfend in die Augen.
„Prächtig!“, stellte Spoorn befriedigt fest.
„Oh ja, uns geht es prächtig“, pflichtete ihr Gylfie bei. „Wir kennen nämlich keine größere Freude, als uns dem Willen unserer Zuchtmeister zu beugen. Nummer 25-2 geht es endlich prächtig.“
Soren nahm das Stichwort sogleich auf. „Nummer 12-1 geht es ebenfalls prächtig. Wir erwarten eure Anweisungen.“
„Kommt mit, Kinder. Ich wusste ja, dass ihr es schafft“, sagte Spoorn daraufhin so freundlich, wie Soren und Gylfie sie noch nie hatten sprechen hören.
„Wenn ihr so weitermacht, ist es im Nu Zeit für eure Besonderheitsfeier.“
Waschbärkacke!, dachte Gylfie.
Skench ergriff das Wort. „Die beiden wurden als Wildlinge hergebracht, jedenfalls der Schleiereulenjunge, und es kommt mir manchmal vor, als ob so ein Wildling mit Mondstich uns am besten dienen kann.“
Träum weiter, du Oberschwachkopf von Glaux’ Gnaden! Die unausgesprochenen Worte hallten förmlich in Sorens Schädel wider.
„Die Kleine wäre in der Krallenwartung gut untergebracht und den Großen könnte ich mir im Eiersaal vorstellen.“
„Die Kleine könnte auch in der Brüterei gute Dienste leisten.“
Brüterei! Eiersaal! Krallenwartung! Soren und Gylfie waren hellwach. Trotzdem gelang es ihnen, so benommen einherzustolpern, als seien sie unheilbar mondwirr.
„Ich würde vorschlagen“, kam es wieder von Skench, „dass wir die beiden jetzt in dieselbe Gruppe und ins selbe Glaucidium stecken, damit die Strafe auch schön lange nachwirkt. Es gilt ja wohl inzwischen als bewiesen, dass sich die Wirkung jedes Mal verstärkt, wenn zwei Jungvögel mit Mondstich einander in die Augen schauen.“
Ha! Gylfie hätte beinahe schallend losgelacht.
So wurden die beiden Freunde in Sorens Glaucidium gebracht, und Jatt und Jutt wurden vorschriftsmäßig davon in Kenntnis gesetzt, dass diese beiden Eulenkinder von nun an zusammenbleiben und in regelmäßigen Abständen angewiesen werden sollten, einander tief in die Augen zu blicken.
„Los, glotzt euch an!“, befahl Jutt unwirsch.
Weder Jatt noch Jutt erspähten das belustigte Funkeln in den beiden Augenpaaren, und keiner der beiden Vettern hörte Soren raunen, kaum dass Jatt und Jutt den Freunden den Rücken zukehrten: „Wir haben’s geschafft, Gylfie! Wir haben’s tatsächlich geschafft!“
Wieder wurden aus Tagen Nächte, und diese Nächte glichen dunklen Perlen in der silbernen Kette, die der Mond im Kreislauf seines Schwindens und Wiedererstehens beschrieb. Erst stand er im vollen Schein als riesige, gleißend flimmernde Kugel am Nachthimmel, dann wieder wurde er schmal wie der feinste Flaum im
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