Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
geheim.“
„Woran uns 12-8 unablässig erinnert. Großer Glaux, da kommt sie ja! Mal sehen, ob ich ihr ein paar Würmer aus dem Schnabel ziehen kann.“ Gylfie zwinkerte ihrem Freund zu, dann nahmen ihre Augen einen leeren Ausdruck an.
Mit dem leichten Torkeln der Mondwirren ging sie auf Hortense zu. „Du bist immer so ruhig und zufrieden, weil du deine Arbeit so prächtig verrichtest, 12-8. Da findet deine Besonderheitsfeier doch bestimmt bald statt.“
„Ich brauche keine Feier, um etwas Besonderes zu sein, 25-2. Ich bin nämlich mit der vornehmsten und bedeutendsten Aufgabe betraut, die es im Dienst unserer wunderbaren Gemeinschaft zu erfüllen gilt.“
„Daran hege ich keinen Zweifel. Auch 12-1 und ich würden uns sehr geehrt fühlen, wenn wir uns einer solchen Aufgabe widmen dürften, aber wir verfügen natürlich nicht über deine überragende Begabung, 12-8. Was für ein Vertrauen man in dich setzt! Einfach beneidenswert.“
12-8 plusterte sich mächtig auf und schien vor Stolz schier zu platzen.
Da kam eine Gruppenaufseherin angesegelt. „Unterwürfigkeitsrüge, Bescheidenheitsverstoß, meine Liebe.“ Bei der Aufseherin handelte es sich um eine gedrungene, backenbärtige Kreischeule. Ihre gelben Augen funkelten warnend.
12-8 machte sich sofort ganz klein. „Ich bitte inständig um Verzeihung! Ich bin nur stolz auf meine Arbeit, nicht auf meine Person. Ich bin und bleibe eine demütige Dienerin unserer heiligen, großen Sache.“
„Oh ja, es ist eine große Sache, der wir dienen“, wiederholte Gylfie bekräftigend, aber Soren hörte die Frage hinter der Feststellung heraus: Worum handelt es sich dabei eigentlich?
„So ist’s recht, meine Liebe.“ Die Kreischeule flog davon und landete wieder auf dem Felsvorsprung, von dem aus sie die Gruppe beaufsichtigte.
Gylfie ergriff die günstige Gelegenheit. „Du bist nun wirklich die letzte Eule, der man mangelnde Bescheidenheit vorwerfen könnte, 12-8. Für meinen Freund und mich stellst du ein großes Vorbild an Unterwürfigkeit dar. Ach, was sage ic h – Unterwürfigkeit! Du bis t …“ Gylfie suchte verzweifelt nach dem passenden Wort.
Worauf will sie hinaus?, wunderte sich Soren. Solch kriecherisches, schmeichlerisches Getue kannte er von Gylfie gar nicht.
„ … du bist einfach subglaucös!“
12-8 blinzelte genauso erstaunt wie Soren, der keine Ahnung hatte, was subglaucös bedeuten sollte.
„Wir beide, also mein Freund und ich, haben nur den einen Wunsch: dass wir eines Tages im Eiersaal arbeiten und uns dabei ein solches Maß an Unterwürfigkeit aneignen dürfen, wie du es bereits besitzt.“
„Sehr nett, dass du das sagst, 25-2. Es ermutigt mich, in meinem Streben nach vollkommener Unterwürfigkeit fortzufahren, während ich unserer großen Sache diene.“ Damit torkelte 12-8 davon und wirkte noch mondwirrer als sons t – falls das überhaupt möglich war.
Kaum war sie außer Hörweite, platzte Soren heraus: „Was um Glaux’ willen bedeutet ‚subglaucös‘?“
„Keine Ahnung, das Wort hab ich mir ausgedacht. Wir müssen unbedingt den Eiersaal und die Brüterei auskundschaften.“ Gylfies Augen funkelten wieder hellwach.
Im Eiersaal
Am nächsten Tag fand sich Soren wieder im Gewöllorium ein. Er war inzwischen zum Zupfer zweiter Klasse befördert worden und hörte sich zu seinem eigenen Erstaunen die gleiche kleine Ansprache wiederholen, die ihnen seinerzeit 47-2 gehalten hatte. „Ich bin Nummer 12-1. Ich weise euch in eure Arbeit im Gewöllorium ein. Kommt mit.“ Auch sein Tonfall war der gleiche. Wie von selbst entströmten die gleichförmigen Laute seinem Schnabel. Als Gylfie dann mit einer neuen Lieferung Gewölle ankam, war er reif für ihren Vorschlag, sich an einen anderen Arbeitsplatz versetzen zu lassen.
„Und zwar in den Eiersaal. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie man als Neuling da reinkommt. Die suchen noch Verstärkung beim Sortieren, hat mir ein Kumpel aus dem Gewöllelager gesteckt. In der Brüterei herrscht Milbenbefall.“
„Und was folgt daraus?“, fragte Soren.
„Weiß ich noch nicht. Ich weiß bloß, dass alle Eulen, die im Eiersaal arbeiten und gerade dienstfrei haben, in die Brüterei abkommandiert wurden.“
„Ich habe immer noch nicht kapiert, was im Eiersaal und in der Brüterei für Arbeiten verrichtet werden. Genauso wenig habe ich begriffen, was es mit den Tupfen auf sich hat, mit denen sich die Zupfer erster Klasse beschäftigen. Das Ganze ist wie ein verzwicktes Rätsel, von
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