Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
weiter.
„Ist ja gut, Jatt, ich erzähle dir alles. Alles, was ich selber weiß. Beruhige dich doch wieder. Also, ich habe vorhin eine Unterhaltung zwischen Jutt und Spoorn mit angehört. Es ging um die neu eingetroffenen Kampfkrallen. Jutt war der Ansicht, dass Tumak nicht sachgemäß damit umgeht. Spoorn meinte, sie würde mal mit Skench darüber sprechen.“
Jatt schnappte nach Luft. „Oh nein! Jutt wollte schon immer die Sammelstelle leiten! Und was das bedeuten würde, ist ja wohl klar. Damit wäre er nach Skench und Spoorn die mächtigste Eule in ganz Sankt Ägolius.“
„So, wie ich es verstanden habe, sollen Tumak und Jutt um den Posten kämpfen. Der Zweikampf soll sofort stattfinden und Jutt schart bereits seine Anhänger um sich. Am besten verständigst du auch deine Kumpels, Jatt. Geh ruhi g … Ich halte hier die Stellung.“
„Danke schön, Grimbel, vielen Dank! Ich werde dir das nicht vergessen, versprochen. Wenn ich die Kampfkrallen-Sammelstelle leite, darfst du dir immer als Erster welche aussuchen.“
„Ist schon gut, Jatt. Aber jetzt lauf, du musst dich beeilen.“
Kaum war Jatt um die Ecke gebogen und in dem langen Gang verschwunden, rief Grimbel seine Schützlinge. „Soren, Gylfi e … kommt! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
Die beiden Eulenkinder flitzten los. Als sie die Bibliothek betraten, rangen sie erst einmal nach Luft. Aber es war nicht der Anblick der Bücher, der ihnen den Atem verschlug, und auch nicht die kleine Sammlung blank polierter Kampfkrallen, die an einer Wand hing, nein, es war der schwarze, sternenübersäte Himmel, der so nah schien, als könnte man die Kralle ausstrecken und sich einen Stern herunterpflücken. Ihre Erinnerung kehrte zurück. Die Erinnerung an Himmel und Win d … Ja, in der Bibliothek spürte man tatsächlich den Wind. Sie waren ihrem Ziel ganz nah! Mit einem Mal strotzten sie vor Selbstvertrauen. Sie würden es schaffen!
Und dann, als sie eben die Flügel zum ersten Schlag hoben, stürmte Skench herein. Sie war in voller Rüstung und sah wahrhaft Furcht einflößend aus. Gewaltige Kampfkrallen prangten an ihren Füßen, eine Metallspitze verlängerte den Schnabel und glänzte im Schein des jungen Mondes, der wie eine schmale Klinge über der Bibliothek schwebte.
„Kraftvoll schlagen!“, rief Grimbel. „Ihr schafft es! Selbstvertrauen! Kraftvolle Abwärtsschläge! Mit zwei Schlägen seid ihr draußen.“ Doch die beiden Eulenkinder konnten sich vor Schreck nicht rühren. Ihre Flügel hingen lahm herunter. Alles war aus.
Da geschah etwas höchst Merkwürdiges. Skench lief, wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, krachend gegen die Wand, eine mit Kerben übersäte Wand, hinter der sich, das wussten Soren und Gylfie von Grimbel, das Tupfenlager befand.
„Flieht! Nutzt die Gelegenheit!“, rief Grimbel.
Der Augenblick schien tatsächlich günstig. Skench wirkte wie gelähmt, schien sich nicht vom Fleck bewegen zu können.
Gylfie und Soren schlugen mit den Flügeln, erst zaghaft, dann immer kräftiger. Sie hoben vom Boden ab.
„Ihr schafft es! Euer Selbstvertrauen macht es möglich! Spürt es im Magen. Ihr seid zum Fliegen geschaffen. Fliegt, meine Kinde r … fliegt!“ Dann ertönte ein grässlicher Schrei, Blut spritzte empor.
„Nicht umdrehen! Auf keinen Fall umdrehen, Soren! Selbstvertrauen!“ Aber es war nicht Grimbel, der ihm das zurief. Es war Gylfie. Am oberen Rand der Schlucht mit der Bibliothek spürten sie einen warmen Luftstrom. Auf einmal war es, als hätten riesengroße Schwingen sie aufgefangen und trügen sie zum Himmel empor.
Sie drehten sich nicht um. Sie sahen nicht den zerfleischten Raufußkauz auf dem Felsboden der Bibliothek liegen. Sie hörten nicht, wie der sterbende Grimbel ein Lied anstimmte mit seiner früheren, melodischen Stimme wie Glockenklang. Es war ein uralter Eulengesang: „Ich habe der Jugend Selbstvertrauen eingeflößt und ihren Flügeln Stärke. Ich habe mich geopfert, sie aber soll fliegen!“
Im freien Flug
Soren und Gylfie flogen durch das finstere Herz der Nacht. Weit und breit war nichts zu sehen als die funkelnden Sterne und der Mond, der auf seiner silbernen Bahn durch die tiefe Dunkelheit glitt. Abermals geriet die Welt ins Trudeln, doch diesmal war alles ganz anders. Es war Soren selbst, der mit voller Absicht Schleifen und Spiralen flog. Er machte sich die Beschaffenheit der verschiedenen Luftströmungen zunutze und kam jetzt ohne kraftvolle Flügelschläge aus. Instinktiv
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