Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
stellte er das anstrengende Schlagen ein und vertraute sich den thermischen Aufwinden an, ließ sich höher und höher tragen, ohne auch nur eine Feder zu rühren. Als er nach unten schaute, sah er Gylfie, die sich von einer niedriger gelegenen Aufwindschicht emporbefördern ließ. Grimbel hatte Recht behalten: Sie wussten von ganz allein, was sie zu tun hatten. Angeborenes Wissen und Selbstvertrauen durchströmten ihre hohlen Knochen, und so flogen die beiden Freunde in die Nacht hinaus.
Nach der langen Gefangenschaft in den windlosen Schluchten des Sankt Ägolius schienen den beiden Jungvögeln nun alle nur denkbaren Winde und Luftströmungen zu begegnen.
Soren hätte nicht sagen können, wie lange sie schon geflogen waren, als Gylfie ihm zurief: „He, Soren, kennst du dich zufällig mit dem Landen aus? Was muss man da machen?“
Landen? Nichts lag Soren ferner, als zu landen. Er hätte ewig so weiterfliegen können. Aber vielleicht wurde die kleine Elfenkäuzin ja schon müde, denn wo Soren einen Flügelschlag machte, brauchte Gylfie drei. „Keine Ahnung, Gylfie. Am besten halten wir erst mal Ausschau nach einer schönen breiten Baumkrone und dann, ä h … dann sehen wir weiter.“
Beide gingen in einen leichten Schrägflug und glitten auf eine unter ihnen liegende Baumgruppe zu. Abermals übernahm ihr Instinkt die Führung. Sie flogen in immer engeren Kreisen abwärts, nutzten mithilfe der Flügelstellung den Luftwiderstand aus, und als die Baumkronen schon ganz nah waren, streckten sie die krallenbewehrten Zehen vor.
„Geschafft!“, sagte Soren erleichtert, als er auf einem Ast landete.
„Hiiilfeee!“, hörte er Gylfie zetern.
„Wo bist du, Gylfie? Was ist los?“
„Ach, nichts eigentlich. Ich hänge bloß mit dem Kopf nach unten.“
„Großer Glaux!“ Soren hatte seine Freundin erspäht. Sie baumelte wie eine Fledermaus vom Ast. „Wie konnte das passieren?“
„Hätte ich vorher gelernt, wie man landet, wäre es erst gar nicht passiert“, konterte Gylfie ärgerlich.
„Oje. Und was willst du jetzt machen?“
„Ich überleg mir was.“
„Kannst du mit dem Kopf nach unten überlegen?“
„Was denkst du denn? Klar kann ich das! Glaubst du, mir fällt jetzt das Hirn raus oder was?“
Es sah lustig aus, wie Gylfie da hing, aber Soren verbiss sich wohlweislich das Lachen. Er hätte ihr gern geholfen.
„Wenn ich du wär, Klein e …“, meldete sich jemand von einem höher gelegenen Ast zu Wort.
Soren bekam einen Schreck. „Wer ist da?“, fragte er ängstlich.
„Ist doch egal. Jedenfalls ist mir schon ein paarmal das Gleiche passiert wie deiner Freundin.“ Der Ast, auf dem Soren saß, geriet ins Schwanken. An seinem Ende erschien die größte Eule, der Soren je begegnet war. Es war ein Männchen, dessen silbergraues Gefieder mit dem Mondlicht zu verschmelzen schien. Es überragte Soren um etliche Haupteslängen, allein sein mächtiger Kopf mit dem imposanten Gesichtsschleier war fast doppelt so groß wie die ganze Gylfie. Es fiel Soren schwer, sich vorzustellen, dass dieser Hüne je in eine ähnliche Zwangslage wie die zierliche Elfenkäuzin geraten war.
„Pass gut auf, Kleine!“, rief er jetzt mit tiefer Stimme zu Gylfie hinunter. „Du musst loslassen, einfach loslassen! Dann machst du sofort einen Aufwärtsschlag und zählst dabei bis drei. Danach drehst du dich rechtsrum und gehst in den Gleitflug. Ich führ’s dir mal vor.“
„Aber du bist so groß und Gylfie ist so klein“, gab Soren zu bedenken.
„Ja, groß bin ic h … Das kannst du laut sagen! Aber ich bin auch schön und anmutig. Ich kann schweben! Ich kann gleiten!“ Das fremde Eulenmännchen hatte sich vom Ast abgestoßen und in die Lüfte emporgeschwungen, wo es alle erdenklichen Flugkunststücke vorführte: Sturzflüge, Loopings, Schleifen.
Dann stimmte ihr neuer Bekannter ein Lied an:
Schwirrflug wie ein Kolibri,
Sturzflug wie ein Adle r –
Im ganzen Vogelreich
Kommt mir keiner gleich!
„Gütiger Glaux, was für ein Angeber!“, sagte Soren halblaut.
„He, wenn man was kann, darf man’s auch zeigen! Wenn man das nicht macht, entdeckt man ja nie, was in einem steckt.“ Das große Eulenmännchen ließ sich wieder auf dem Ast nieder. Es schien hochzufrieden mit seiner Schlagfertigkeit und seinen Flugkünsten.
„Ich versuch’s mal“, ließ sich Gylfie vernehmen.
„Das Loslassen ist das Schwierigste, aber wenn du es dir zutraust, klappt es auch.“
Es geht mal wieder ums Selbstvertrauen,
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