Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
Bärenkräften und Verstand,
Dann seid ihr unbezwingbar
Im Wasser und an Land.
Wie eure Mutter es euch lehrte,
Seid aufrichtig und gut,
Bewahrt euch Herz und Hoffnung
Und verliert niemals den Mut.
„Alles Gute, liebe Kinder!“, setzte sie mit Tränen in den Augen hinzu. „Hoffentlich sehen wir uns einmal wieder.“
Beim nächsten Dunkel verließ Siv die kleine Eisbärenfamilie. Ihr Ziel war die Insel, auf der sich die Stromer versammelten.
Der Klang einer Eisharfe tönte zu Siv empor. Auf der Insel unter ihr wimmelte es von Stromern. Siv war nervös, aber das war eigentlich unnötig. Stromer stellten einander keine neugierigen Fragen nach dem Woher und Wohin. Jeder Stromer hatte irgendwann sein heimisches Nest und seine Familie verlassen und war in die Welt hinausgezogen. Nach den Gründen zu fragen, galt als grobe Unhöflichkeit.
Die Stromer gehörten keiner Sippe und keinem Königreich an. Sie wollten unabhängig bleiben. Meist waren sie allein unterwegs. Wenn sie sich doch einmal einer Reisegemeinschaft anschlossen, wechselte die Zusammensetzung der Gruppe ständig. Darin waren die Stromer den Eisbären ähnlich. Auch die waren Einzelgänger.
Ein paarmal im Jahr jedoch trafen sich die Stromer zu einem großen Fest. Ihnen allen lag das Musizieren im Blut und ihre berühmten Lieder priesen die Freiheit. Schnee-Eulen galten als besonders begabte Sänger. Beim Landeanflug hörte Siv, wie eine Schnee-Eule zu den Harfenklängen ein ergreifendes Lied anstimmte.
Flieg mit mir fort,
Oh Liebster mein,
Ich mag nicht länger
Einsam sein.
Flieg mit mir fort,
Eh der Morgen anbricht,
Eine Höhle zum Wohnen
Brauchen wir nicht.
Uns wiegt der Wind
Über dem Meer,
Trägt uns übers Land
Ohne Wiederkehr.
Flieg mit mir fort,
Oh flieg mit mir fort!
„Wunderschön, nicht wahr?“ Eine Flecken-Kreischeule landete neben Siv auf dem eisbedeckten Felsen.
„Das finde ich auch.“
Das Lied hatte Siv schmerzlich bewusst gemacht, wie einsam sie war. Ihr Gatte war tot und ihren einzigen Sohn hatte sie noch nie gesehen. Auch Svenka, Rolf und Anka fehlten ihr. Eigentlich merkwürdig, dass gerade die Stromer, die sich bewusst von ihren Familien lossagen, solche Lieder dichten. Anscheinend suchen sie die Einsamkeit, sehnen sich aber gleichzeitig nach einem Gefährten.
„Es geht doch nichts über den Gesang einer Schnee-Eule. Diese Sängerin heißt übrigens Schneerose. Hoffentlich bringt sie gleich noch ,Himmel voll Tränen‘ zu Gehör. Das ist auch ein schönes Lied. So traurig, dass es einem den Magen zerreißt.“
Bloß nicht! , dachte Siv. Sie durfte sich jetzt nicht ihrem Kummer hingeben. Sie musste sich nach Hinweisen auf ihren Sohn umhören.
Sie flog ein Stück weiter. Über dem nächsten Felsen glitten mehrere Stromer im Tanz durch die Luft. Ein Uhu sang dazu ein Klagelied über Leid und Zorn, Sturm und gefrorene Tränen.
Jetzt reicht’s aber! Siv schwang sich abermals in die Lüfte. Diesmal landete sie an einem Futterplatz. Fischuhus hatten einen Berg Heringe gefangen. Siv setzte sich neben eine kleine Gruppe, die schmauste und sich dabei unterhielt.
„Am H’rathgar-Gletscher wird wieder gekämpft. Fürst Arrin ist auf dem Vormarsch.“
„Hab ich auch gehört. Die letzten Getreuen von König H’rath haben noch versucht, ihn aufzuhalten. Hat nicht geklappt.“
„Dann müsste es ja an der Reißzahnbucht wieder ruhig sein und man kann wieder Sportfliegen. Die Spundlöcher in der Reißzahnbucht sind einfach unvergleichlich.“
„Stimmt. Aber dort treiben sich Kraaler herum. Also Vorsicht.“
Kraaler … Wer oder was sind noch mal Kraaler? H’rath hatte sie irgendwann einmal erwähnt. Siv hatte angenommen, es handele sich um eine Untergruppe der Stromer, aber das schien nicht der Fall zu sein.
„Angeblich hat der alte Kreischeulerich, der letzten Sommer mit uns geflogen ist, sich ihnen angeschlossen.“
„Üble Burschen, diese Kraaler.“
„Ich hab gehört, sie haben sich jetzt am H’rathgar-Gletscher niedergelassen.“
„Da hast du was verwechselt. Am Gletscher leben die Glaux-Brüder.“
„Nein. Die sind von dort weggezogen.“
Siv horchte auf. Die Glaux-Brüder hatten schon früher oft davon gesprochen, dass sie sich für ihre Gemeinschaft einen Ort wünschten, an dem sie alle auf Dauer zusammenleben konnten. Ihre Wohnhöhlen am Gletscher waren über ein großes Gebiet verstreut gewesen. Außerdem hatten sie von einer geräumigen Bibliothek für ihre wissenschaftlichen Werke geträumt. Offenbar
Weitere Kostenlose Bücher