Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
quer durchs Land. Sie sehen und hören alles, was in N’yrthgar vor sich geht.“
„Aber sie erzählen es nicht jedem. Das weiß ich aus Erfahrung. Ich habe sie mal gebeten, mir die Richtung der Heringsschwärme zu verraten. Sie haben für die Auskunft eine Bezahlung gefordert. Ein Büschel von meinem Fell, ein Barthaar, einen ausgefallenen Zahn … Die Stromer sind ein habgieriges Volk.“
Sivs Augen leuchteten auf. Sie legte den Kopf schief und schaute Svenka bittend an.
„Komm du mir nicht auch noch damit, Siv!“
„Nur ein klitzekleines Barthaar! Oder die Fellkugel, die Nummer Zwei heute Morgen ausgewürgt hat.“
„Das eklige Ding? Das kannst du gern haben.“
„Danke!“
„Bedank dich bei Nummer Zwei. Und das Barthaar sollst du auch kriegen. Komm her und zupf es selbst aus. Trotzdem ist mir nicht wohl bei der Sache.“
„Mir auch nicht. Du musst doch denken, dass ich mich furchtbar albern aufführe.“
„Nein. Mutterliebe ist niemals albern. Ich verstehe dich sehr gut.“ Svenka legte Siv behutsam die mächtige Pranke um die Schulter.
Siv machte sich auf die Suche nach weiteren kleinen Dingen, mit denen sie sich nach Stromersitte schmücken konnte. Sie fand eine hübsche blauschwarze Kormoranfeder und einen getrockneten Fischschwanz. Svenka half ihr, beides in ihrem Gefieder zu befestigen. Siv trat an den Rand des Eisbergs und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. „Wie ich aussehe!“
„Jedenfalls erkennt keiner, dass du in Wirklichkeit eine Königin bist.“
„So soll es ja auch sein“, gab Siv zurück.
„Wann willst du losfliegen?“
„Demnächst.“
„Was heißt hier ,demnächst‘? Ich habe dir doch gesagt, dass sich die Stromer gerade auf der Insel an der Mündung des Fjords versammeln. Du musst dich beeilen.“
„Bevor ich losfliege, habe ich noch etwas zu erledigen.“ Siv schaute Svenka vielsagend an.
Die Bärin machte ein verständnisloses Gesicht. „Was denn?“
„Ich möchte, dass du Nummer Eins und Nummer Zwei richtige Namen gibst.“
„Wozu?“
„Du hast die beiden längst ins Herz geschlossen, so wie ich auch. Du könntest sie gar nicht noch mehr lieben, wenn sie Namen hätten. Und die beiden haben es wirklich verdient. Sie sind solche Prachtkinder. Mit ihrer Fröhlichkeit haben sie mich so oft wieder aufgemuntert, wenn ich traurig war. Sie nennen mich sogar ,Tante‘.“
„Du hast ja Recht“, sagte Svenka leise.
„Lass uns eine Namensfeier abhalten.“
Svenka musste schmunzeln. Diese Eulen immer mit ihren Feiern ! Reichte es denn nicht, wenn man seinen Kindern einfach einen Namen gab? Nein, es musste unbedingt eine offizielle Feier sein.
Gerade Siv legte großen Wert auf solche Rituale. Als ihre treue Dienerin Myrrthe von den Hägsdämonen umgebracht worden war, hatte Siv sich auf Svenkas Kopf gestellt. Sie hatte eine Feder von Myrrthe in den Schnabel genommen und ein wunderschönes, selbst gedichtetes Lied gesungen. Siv hatte Svenka erklärt, dass bei jeder Abschiedsfeier ein Lied gesungen wurde. Das Lied rühmte die guten Eigenschaften des Verstorbenen und wünschte ihm einen sanften Übergang nach Glaumora. So hieß bei den Eulen das Paradies.
Svenka wälzte sich langsam herum und weckte ihre Jungen.
Nummer Zwei blinzelte schläfrig. „Was hast du gemacht, Tante? Du siehst hübsch aus!“
„Ich hab mir nur ein paar Sachen ins Gefieder gesteckt“, antwortete Siv. „Einfach so zum Spaß.“
„Ihr bekommt jetzt Namen, meine Kleinen“, verkündete Svenka.
„Was sind Namen?“, fragte Nummer Eins.
„Mit einem Namen wird man gerufen.“
„Aber du rufst uns doch immer Nummer Eins und Nummer Zwei“, wunderte sich Nummer Eins.
„Ja, und das soll sich jetzt ändern.“
„Das ist ungerecht! Ich will nicht Nummer Zwei sein!“
„Ihr braucht euch nicht mehr um die Reihenfolge zu zanken. Ab jetzt heißt ihr Anka …“, Svenka nickte Nummer Zwei zu, „… und Rolf.“ Sie nickte Nummer Eins zu.
„Rrrrrolf!“, knurrte der kleine Eisbär dumpf. „Klingt gut.“
„Aaaanka!“ Anka riss das Mäulchen weit auf. „Aaaanka!“
„Still jetzt, Kinder“, mahnte Siv und flatterte auf Svenkas Kopf. „Ich trage jetzt ein Lied vor, das wir Eulen bei der Namensfeier für unsere Küken singen. Ich habe es ein wenig abgewandelt. Schließlich seid ihr keine Eulenküken, sondern junge Eisbären.“
Liebe Anka, lieber Rolf,
Ihr Kinder aus dem Eise,
Mögt ihr behütet sein,
Stets frei, stark und weise.
Folgt dem Ruf eurer Natur
Mit
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