Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft
Kopf. Was er sagte, beeindruckte sie. Er schien zu spüren, was eine wahrhaft gute Tat war. Sie würde es ihm überlassen, sich um das Kauzmädchen zu kümmern, und den beiden Tee und Milchbeerkuchen vorbeibringen lassen.
Soren blieb den ganzen Abend bei Primel. Das Kauzmädchen hatte Temperatur. Ab und an stieg das Fieber und dann sprach Primel von ihrem kleinen Bruder und gab sich die Schuld an seinem Tod. Osgood hatte sie ihn nennen wollen. Dann wieder war sie ganz klar und fragte Soren blinzelnd: „Und Mama und Papa? Was werden die machen, wenn sie heimkommen und der ganze Wald samt unserem Baum niedergebrannt ist? Werden sie mich suchen?“
Auf diese Frage wusste Soren beim besten Willen keine Antwort, denn er hatte sie sich selbst unzählige Male gestellt. Als der Morgen dämmerte, war Primel tief und fest eingeschlafen und Soren beschloss, in seine eigene Höhle zurückzukehren. Auf seinem Weg durch das Labyrinth der gewundenen Gänge bog er immer wieder falsch ab. In einem besonders verwinkelten Gang kam ihm eine ältere Fleckenkäuzin entgegen.
„Hall o … bist du nicht einer von den Neuen? Von der Gruppe, die aus der Eisklamm gekommen ist?“, fragte sie.
„Eigentlich sind wir nicht aus der Eisklamm gekommen. Der Sturm hat uns abgetrieben. Wir sind von den Schnabelbergen losgeflogen und dan n …“
„Die Schnabelberg e … ja, ja, die können den stärksten Muskelmagen durcheinanderbringen.“
Soren blinzelte verdutzt. Was sollte das heißen?
„Ich bin Strix Struma, Ryb der Navigationsbrigade. Vielleicht tätest du gut daran, deine Fähigkeiten im Navigieren zu verbessern. Aber das erste Hell ist gleich da, du hast es sicher eilig, in deine Höhle zu kommen. Wenn du dort bist, spitz mal die Ohren, dann hörst du Madame Plonks Harfe. Ihre Musik lullt einen wunderbar in den Schlaf und sie hat eine herrliche Singstimme.“
„Was ist eine Harfe? Und was ist Musik?“, fragte Soren. Die grässlichen Lieder im Sankt-Ägolius-Internat für verwaiste Eulen fielen ihm ein. So etwas konnte ja wohl nicht gemeint sein, oder?
„Ach, das ist schwer zu erklären. Hör einfach hin.“
Als er wieder in die Schlafhöhle kam, tranken seine Freunde gerade Milchbeerentee. „Schade, dass du vorhin weg warst, Soren“, begrüßte ihn Gylfie. „Hier tragen die Nesthälterinnen den Tee auf dem Rücken, wenn sie ihn bringen.“
„Ja, ich glaube wirklich, dass ich hier richtig bin und mich hoffentlich bald wieder nützlich machen darf“, setzte Mr s Plithiver strahlend hinzu.
Alle machten einen zufriedenen Eindruc k – bis auf Morgengrau. „Ich hab doch nicht die beiden Schurken aus dem Sankt Äggie getötet, mit Krähen gekämpft und einem Luchs die Kehle aufgeschlitzt, um hier auf meinem Bürzel zu hocken und Tee zu trinken!“ Er plusterte sich verärgert auf.
„Und wie willst du das ändern?“, fragte Gylfie.
„Ich bin dafür, dass wir mit Barran und Boron reden. Die beiden haben hier ja das Sagen. Ich glaube nicht, dass ihnen klar ist, welche Gefahr uns allen droht. Diese Grenzgefechte, von denen sie andauernd rede n – die haben nichts mit dem Sankt Äggie zu tun. Ihr habt ja gehört, was das eingebildete Fleckenkauzdämchen gesagt hat. Die Eulen hier im Baum haben keine Ahnung, was in der Welt da draußen vor sich geht. Wir scho n – wir wissen Bescheid!“ Seine gelben Augen blitzten. „Stimmt’s oder hab ich Recht?“
„Meinst du die letzten Worte des Streifenkauzes? Sein ,schön wär’s‘?“ Digger hatte die Stimme gesenkt. Sie hatten seither nicht mehr darüber gesprochen, aber insgeheim war ihnen allen klar, dass der Sterbende damit hatte sagen wollen, dass es noch weit Schlimmeres gab als die Schurken von Sankt Ägolius.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte Soren widerstrebend. „Vielleicht ist es das Beste, wir sprechen mit dem Königspaar. Aber nicht jetzt. Es wird Tag. Schlafenszeit.“
Die Höhle war mit dem weichsten Moos und den flaumigsten Dunenfedern ausgepolstert. Soren verzog sich in einen Winkel neben dem Eingang. Er wollte zuschauen, wie der Tag anbrach. Die letzten Sterne verblassten, der Himmel färbte sich rosa. Es sah wunderschön aus. Die knorrigen Äste des mächtigen Baumes schienen sich dem neuen Tag wie zur Begrüßung entgegenzurecken.
„Die Flaumfedern erinnern mich an Mama“, raunte Soren Mr s Plithiver zu.
„Mich auch, Schatz.“ Die alte Nesthälterin rollte sich neben ihm zusammen. Als alle Eulen ein bequemes Plätzchen gefunden hatten,
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