Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
deswegen kann ich doch wohl genauso gut fliegen, sehen und hören wie sonst!“
Morgengrau begriff, dass Soren es nicht aushalten würde, untätig zurückzubleiben und auf Neuigkeiten zu warten.
Kurz darauf trug Soren Barran sein Anliegen vor. Die majestätische Schnee-Eule betrachtete ihn blinzelnd. Soren hatte Magendrücken. Würde Barran Ja sagen?
„Du möchtest also deine Schwester beziehungsweise Primel ersetzen.“
„Primel ist eine Sperlingskäuzin. Sie kann ich wohl kaum ersetzen.“
„Ganz recht.“ Soren fiel der Magen auf die Zehen. „Du kannst nicht wie ein Sperlingskauz dicht über dem Boden durch hohes Gras fliegen und nach Vermissten oder Verwundeten Ausschau halten.“
„Das ist richtig, abe r …“ Soren verstummte.
Barrans gelber Blick wurde milder. Das sanfte Leuchten ihrer Augen glich nun den ersten Sonnenstrahlen am frühen Morgen. „Ich mache dir einen Vorschlag. Was hältst du davon, wenn Gylfie Primels Stelle einnimmt?“
„Ja, abe r … Und ich?“
„Lass mich doch erst mal ausreden, mein Lieber. Elfenkäuze sind fast genauso gut für Niedrigflüge geeignet wie Sperlingskäuze. Dich würde ich lieber auf Eglantines Position einsetzen.“
„Ich darf also mitkommen?“ Barran darf auf keinen Fall merken, wie mich das Ganze mitnimmt. Ich darf nicht weinen! Wenn er Eglantine zersprungen zurückbekäme, dann würde er sie Stück für Stück wieder zusammensetzen, das schwor sich Soren.
Stück für Stück? Woran erinnerte ihn das bloß? Stück für Stüc k … Er spürte ein Kribbeln im Magen, aber es wollte ihm nicht einfallen. Ega l – er hatte jetzt keine Zeit zum Grübeln. Er musste seine Schwester suchen!
Eine Viertelstunde nach dieser Unterredung brach die Rettungsbrigade zu ihrem Einsatz auf. Soren nahm Eglantines Position ein. Barran hatte sich überlegt, dass Eglantine und Ginger in diesem Sommer beide krank gewesen und deshalb vermutlich nicht gegen den Wind geflogen waren. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens hatte ein Nord-Nordostwind geblasen. In dieser Richtung lag Kap Glaux, wo sich die Reinen vor der Belagerung gesammelt hatten. Soren erinnerte sich noch gut an den Anblick Hunderter und Aberhunderter SchneeEulen. Die Brigade der Beste n – bestehend aus der Viererbande sowie aus Otulissa, Ruby und Marti n – hatte die Landzunge auf der Rückkehr von ihrem Spionageauftrag in Sankt Ägolius überflogen. Kludd hatte ein fast tausendköpfiges Schleiereulenheer um sich versammelt, mit dem er die Insel Hoole und den Großen Baum belagern und erobern wollte. Doch nach ihrer Niederlage hatten die Reinen das Kap verlassen und sich zurückgezoge n – in die Hinterlande oder in die Wüste Kuneer, besagten die Gerüchte. Soren machte sich klar, dass sie auf diesem Flug nicht nach Scharen von Schleiereulen Ausschau hielten, sondern nach einer Sperlingskäuzin und einem einzelnen Schleiereulenmädche n – seiner kleinen Schwester Eglantine. „Tupfitis im Vollstadium“, hatte Otulissa gemeint.
Kap Glaux zeichnete sich schon als verschwommener Umriss am Horizont ab. Die Brigade wollte auf einem halbwegs geschützten Strand landen, der allgemein nur „Die Bucht“ genannt wurde. Auf den Bäumen, die dort standen, konnten sie sich kurz ausruhen, bevor sie schließlich in einer von oben nach unten gestaffelten Formatio n – ein Teil der Eulen flog über den Baumwipfeln, ein weiterer in mittlerer Höhe und ein dritter niedrig über dem Bode n – die Suche im Landesinneren aufnahmen.
Wir müssen die beiden unbedingt finden! Soren hatte Eglantine schon einmal verlore n – ein zweites Mal konnte er das nicht ertragen.
Als Eglantine begriffen hatte, dass sie eine Gefangene ihres Traums war, hatte sie es mit der Angst zu tun bekomme n – und diese Angst hatte sich mittlerweile zu einer regelrechten Panik ausgewachsen. Tapfer kämpfte sie gegen den Wind und den Regen über dem Hoolemeer an und hatte dabei nur einen Gedanken: Ich muss meiner Traummutter in die Augen schauen. Ich muss herausfinden, was an ihr echt ist und was nicht. Ich muss ein letztes Mal zu ihr zurückkehren.
„Warum hast du es so eilig, Eglantine?“, rief Ginger. „Warum haben wir nicht ein paar Stunden gewartet, bis der Wind abflaut? Deine Mama wartet doch sowieso auf dich.“
Das will ich hoffen! , dachte Eglantine. Aber war die Traummutter überhaupt ihre richtige Mama? Die ungewohnten Kosenamen, die sie benutzte, ihre Größe, ihr blendend weißer Gesichtsschleie r … und warum war Papa
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