Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung

sich das Abendrot über die Insel Hoole senkte, schwang sich eine Eulenbrigade mit Ezylryb an der Spitze in die Lüfte. Aber es war nicht irgendeine Brigad e – es war die Brigade der Besten, dazu Ruby, Martin und weitere Eulen zur Verstärkung. Womöglich hatten Barran und Ezylryb von Anfang an vorgehabt, Soren und seinen Freunden einen Auftrag zu erteilen, der über die Suche nach zwei Vermissten hinausging. Soren jedenfalls war voller Selbstvertrauen, als er in Gesellschaft seiner Freunde in Richtung der Schnabelberge flog.
    „Kurs Südsüdost“, meldete Gylfie. Sie übernahm diesmal nicht nur die Navigation, sondern auch die Niedrigflüge.
    Der Wirbelsturm war weit weg im Südwesten, aber er beeinflusste die Wetterlage über den gesamten Südlanden. Um die Eulenformation herum ballten sich mächtige Gewitterwolken und über der Küste musste sie sich ihren Weg durch einen wahren Hagel von Blitzen bahnen. Hoffentlich hatten Primel und Eglantine irgendwo Schutz gefunden! Wieder zuckte ein grellweißer Blitz über den pechschwarzen Nachthimme l – „der Himmel entblößt seine Knochen“, nannten die Eulen da s – und Soren fuhr zusammen. Das grelle Weiß beunruhigte ih n – aber warum nur? Schließlich gehörte er den Wetterfliegern an und es war nicht sein erster Gewittersturm. Krach! Es sah aus, als tanzte ein Gerippe aus Blitzen über den Horizont.
    Ezylryb hatte sich zurückfallen lassen und flog jetzt neben Soren.
    „Ich schätze, der Sturm hat Primel und Eglantine in die Schnabelberge gepustet. Wenn’s dich tröstet, stell dir vor, dass die beiden auf der ruhigeren Seite sind.“
    Soren war keineswegs getröstet, denn in den Ausläufern der Schnabelberge stand überall der Wald in Flammen. Entweder werden die beiden vom Sturm zerfetzt, oder sie werden bei lebendigem Leib gebrate n – tolle Wahl! , dachte er.
    Doch da rief Morgengrau, der Ezylryb an der Spitze der Formation vertrat: „Spiegelseen voraus!“
    Als die Viererbande das hörte, erbebten ihre Mägen.
    Diesmal lasse ich mich nicht verzauber n – ich bleibe standhaft! , nahm Soren sich fest vor. Auf den sonst spiegelglatt schimmernden Wasserflächen flackerte der Widerschein der brennenden Bäume.
    „Das ist ja das reinste Hägsmir!“, rief Gylfie.
    Auch Soren musste unwillkürlich an die Eulenhölle denken, denn die tanzenden Flammen glichen den Hägsdämonen, die nicht nur zwei, sondern unzählige flammengesäumte Flügel besaßen. Hatten sich die Spiegelseen etwas Neues ausgedacht, um die Ankömmlinge in ihren Bann zu schlage n – in einen Feuerbann? Wenn eine Eule zu lange in die flackernden Flammen schaute, vergaß sie, wie man flog, stürzte ab und brach sich das Genick beziehungsweise ertrank.
    Ein Donnerschlag krachte und ein Blitz fuhr in den See unter Soren. Einen Augenblick lang war die Wasserfläche blendend wei ß – und Soren fiel sein längst vergessener, wirrer Traum wieder ein: der Nebel, der See voller Papierfetzen, die in gleißende Stücke berstende Wasseroberfläche, die Furcht, die ihn gepackt hatte. Und sein trotziger Schwur: „Ich werde diese Seen erober n – Stück für Stück. Jawohl, Mr s Plithive r – Stück für Stück!“
    Diesmal wusste er, was ihm das grelle Weiß sagen wollte. „Nyra!“, rief er aus. Stück für Stück hatte Kludds hinterhältige Gefährtin Macht über Eglantine und Primel gewonne n – erst über ihre Gedanken, dann über ihren Verstand und ihre Instinkte, bis sie die beiden Eulenmädchen ganz und gar in ihre Gewalt gebracht hatte.

Das Heiligtum

    „Habt ihr es mitgenommen?“, kreischte Nyra. „Nun mach schon den Schnabel auf!“
    „Immer mit der Ruhe, Herrin“, sagte Leutnant Stürmer besänftigend. „Das Heiligtum ist wohlbehalten im Flugbeutel verwahrt.“
    „Wenn einer von euch Dummköpfen es fallen lässt, hacke ich ihm erst beide Augen aus und dann auch noch den Magen!“
    „Keine Sorge, Herrin, das wird nicht passieren“, übertönte ein anderes Mitglied ihrer Leibwache das Tosen der Flammen.
    „Wie wär’s, wenn wir auf einem Baum zwischenlanden, der noch nicht brennt?“, schlug Ginger vor.
    Eglantine und Primel waren gezwungen, in der Mitte der feindlichen Formation zu fliegen. Unter ihren Bewachern war auch Ginger. Primels Misstrauen war begründet , dachte Eglantine, als sie Gingers schadenfrohe Miene sah. Leider kam diese Einsicht zu spät.
    Als die Tanne in Flammen aufging, hatte der Sog des Feuers alle im Baum sitzenden Eulen in die gleiche Richtung