Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
auf Einflüsse aus ihrer Umgebung viel empfindsamer als größere Eulenarten. Primel tippte sich mit der Zehe auf die Magengegend und stellte sich Otulissas Schaubild mit den Quadranten vor. Was hatte ihnen Ezylryb erklärt?
„Im Gehirn jeder Eule gibt es winzige magnetische Teilche n – man nennt sie auch Eisenoxide. Diese Teilchen helfen uns beim Navigieren, weil sie sich nach dem Magnetfeld der Erde ausrichten. Ist eine Eule dem übermäßigen Einfluss von Tupfen ausgesetzt, geraten diese Teilchen durcheinande r …“
Wenn ich in dem Nest sitze, gerät etwas in meinem Gehirn durcheinander , dachte Primel, und in meinem Magen auch. Sie sah vor sich, wie Ezylryb mit dem verstümmelten Fuß auf das Schaubild zeigte. Bei älteren Eulen beeinträchtigte der Einfluss von Tupfen den Orientierungssinn, bei jüngeren Vögeln wie Prime l – und Eglantin e – wurden im schlimmsten Fall die inneren Organe geschädigt. Primel hörte den alten Kreischeulerich sagen: „Der Muskelmagen versteinert und kann keine Gefühle mehr verarbeiten. Es kann sogar zu Wahnvorstellungen komme n – und das nennt man dann Tupfitis.“
Auf einmal war Primel alles klar. Tupfitis konnte zum Zerspringen führe n – man wollte sie hier in denselben beklagenswerten Zustand versetzen wie Eglantine!
„Heda!“, rief der Ruß-Schleiereulerich von draußen, „bleib gefälligst im Nest oder soll ich mich auf dich draufsetzen?“
Nur zu , dachte Primel, setz dich ruhig mitten in die Tupfen. Um Zeit zu gewinnen, antwortete sie: „Mir kommt grade ein Gewölle hoch.“
„Dann würg’s aus und geh endlich schlafen.“ Der Schleiereulerich gähnte laut.
Primel verzog sich in einen Winkel und würgte das Gewölle aus. Danach ging es ihr besser, aber das konnte genauso gut daran liegen, dass sie sich noch weiter von dem höchstwahrscheinlich mit Tupfen gespickten Nest entfernt hatte. Ihr fiel ein, wie oft sie im Großen Ga’Hoole-Baum aufgewacht war, weil Eglantine unruhig träumte. Dann war Ginger an Eglantines Lager geflogen und hatte die Schlafende beruhigend gestreichel t – oder hatte sie vielleicht unauffällig Tupfen unter das Moos geschoben? Aber wo mochte sie die Tupfen herbekommen haben?
„Bist du endlich fertig? Ab ins Nest oder ich rufe Seine Reinheit!“
Das klingt gar nicht gut , dachte Primel beklommen. Was sollte sie jetzt tun? Wenn sie das Nest auseinanderzupfte, würde sie die Tupfen bloß in der ganzen Höhle verteilen. Sie tastete mit dem Fuß nach dem Bernsteinanhänger, den sie um den Hals trug. Mein Talisma n – na los, zeig, was du kannst! Geistesabwesend rieb sie mit der Zehe über den Bernstein, dann ließ sie ihn wieder auf ihre Brust fallen. Sie spürte ein Kribbeln und schaute an sich herunter. Die Federn unter dem Anhänger hatten sich steil aufgestellt. Nanu? So etwas war ihr noch nie passiert.
„Ins Nest, hab ich gesagt!“
„Ist ja schon gut.“
Draußen war es taghell, aber in der Höhle war es dämmrig. Wenn Primels Bewacher den Kopf hereinsteckte, mussten sich seine Augen erst umstellen. Primel hatte eine Eingebung. Sie würde sich mit den Rücken zum Eingang in das Nest setzen. Die beiden dunklen Augenflecken auf ihrem Hinterkopf, die typisch für Sperlingskäuze sind, würden den Eulerich vorübergehend täuschen, und Primel konnte sich mit ihrem Anhänger beschäftigen. Das lästige Summen setzte ein, kaum dass Primel auf dem Nest Platz nahm, aber sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Als sie noch einmal über den Bernstein rieb, sträubte sich ihr Brustgefieder wieder, und nicht nur da s – ein Moosbüschelchen schwebte in die Höhe und blieb an dem Anhänger haften. Die staunende Primel rieb ihren Talisman mit neuem Eifer. Bald war der ganze Anhänger voller Moos und Dunen. Bei Glaux! Aber Bernstein ist doch nicht magnetisc h … Aus dem Unterricht bei Bubo wusste Primel, dass nur Eisen und eisenhaltiges Gestein Magnetkräfte entwickelten. Bernstein dagegen war fossiles Baumharz. Aber der Talisman hat sich aufgeladen, als ich ihn gerieben habe!
Wenn der Bernstein selbst nicht magnetisch war, konnte es nur an der Reibung liegen. Was mag wohl passieren, wenn ich den Bernstein ganz lange und fest reibe und ihn dann in das Nest lege? Probieren geht über Studiere n …
Als Primel den Anhänger an der Kette wieder aus dem Nest zog, glitzerte er von unzähligen Tupfen. Doch wie sollte sie das Teufelszeug jetzt loswerden? Feuer konnte Tupfen vernichten, aber Primel konnte ja wohl kaum
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