Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
dass man auf so etwas nicht wettet? Lasst uns einfach Glaux danken, dass wir unser geliebtes Ei wiederhaben.“
Knack! , machte es und das Ei brach auf. Ein rotes, glitschiges Küken purzelte heraus. Coryn war entsetzt. Er hatte noch nie etwas so Abstoßendes gesehen. Das Küken hatte riesige Glupschaugen und keine einzige Feder am Leib. Aber … aber … es ist so süß und lieb! Widersprüchliche Gefühle überfluteten ihn. Ja, das Küken war abstoßend hässlich, aber zugleich war es wunderhübsch. Es war mit Schleim verklebt, aber Coryn hätte es am liebsten an sich gedrückt. Jetzt kam es unbeholfen auf die Beine, die aber gleich wieder unter ihm wegknickten.
„Es ist ein Junge!“, rief Mistel und drehte sich um. „Wir wollen ihn Coryn nennen!“
„Wie bitte?“ Coryn traute seinen Ohren nicht.
„Klar doch – Coryn soll er heißen!“, rief Harry und allgemeiner Jubel brach aus.
„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stotterte Coryn verlegen.
„Du brauchst gar nichts zu sagen“, entgegnete Kalo. „Wenn du nicht gewesen wärst …“
„Ja, Coryn. Wenn du nicht gewesen wärst …“ Mistel schossen die Tränen in die Augen.
Auf das Schlüpfen folgen die vielen kleinen Feiern, die das Aufwachsen einer jungen Eule begleiten. Am bewegendsten fand Coryn die Erster-Blick -Feier, die stattfand, wenn ein Küken zum ersten Mal die verschwollenen Augen öffnete.
„Mein Bruder glaubt, dass unser Bau die ganze Welt ist und dass es auf dieser Welt nur fünf Eulen gibt!“, raunte Kalo dem jungen Schleiereulerich zu. Es folgte die Erstes-Insekt - beziehungsweise Erster-Wurm -Feier. Coryn wurde auserkoren, dem Kleinen seinen ersten Wurm zu überreichen. Anschließend wurde die Erste Dune gefeiert, als dem nackten Küken der erste Flaum spross.
„Bald bist du ein niedliches Flauschbällchen, mein Sohn“, gurrte Harry. „Guckt mal, unser Kleiner hat Kükenkacka gemacht!“
„Papa ist ganz vernarrt in ihn“, sagte Kalo.
„Was heißt ‚vernarrt‘?“, fragte Coryn.
„Das heißt, dass er vor lauter Liebe gaga ist“, erklärte Mistel ihm. „Kalo sammelt ausgefallene Wörter. ‚Vernarrt‘ ist ihre neueste Entdeckung.“
Coryn fand das Wort sehr treffend. Auch er war vernarrt in seinen kleinen Namensvetter. Er empfand diesen Zustand aber nicht als gaga oder verrückt. Er wusste nur einfach nicht wohin mit seiner überströmenden Liebe.
Es würde ihm furchtbar schwerfallen, die Höhlenkäuze wieder zu verlassen. Am liebsten wäre er für immer bei ihnen geblieben. Doch er war schon fast fünf Nächte hier – viel zu lange. Die Familie hatte ihn gebeten, noch bis zur Erstes-Fleisch -Feier des kleinen Coryn zu bleiben, die übernächste Nacht stattfinden sollte. Aber Coryn war klar, dass er beim nächsten Dunkel aufbrechen musste. Heute Nacht jedoch würde er noch einmal zusammen mit Kalo auf die Jagd fliegen und das erste Fleisch für den kleinen Coryn erbeuten.
Coryn fand den gemeinsamen Ausflug hochinteressant. Die Hälfte der Zeit verbrachte Kalo nicht in der Luft, sondern unten am Boden. Dort stocherte sie mit dem Schnabel in Rattenlöchern und Maulwurfshügeln. Das war vermutlich typisch für Höhlenkäuze, die kräftige, lange, federlose Beine besaßen und ausgezeichnete Läufer waren.
Coryn saß währenddessen auf einem Stein, die erbeutete Maus fest in den Krallen. Schon komisch , dachte er. Am Anfang fand ich die federlosen Beine hässlich, aber jetzt nicht mehr . Er schaute Kalo nach, die zu einem Maulwurfshügel lief. Jetzt finde ich ihre Beine richtig hübsch. Sie hat einen anmutigen Gang. Ihr Schwanz schleift beim Laufen nicht wie meiner über den Boden. Und wie sie die Schultern hält … Aber es ist nicht nur ihr Aussehen. Kalo ist auch noch sehr klug. Ach – warum muss ich immer alles Schöne zurücklassen? Warum muss ich in die Hinterlande fliegen?
Kalo kam zurück und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nur Grosnick“, verkündete sie und flatterte zu ihm hoch.
„Gros… was?“
„Weißt du etwa nicht, was Grosnick ist?“
„Nein.“
„In dem Hügel waren nur Maulwurfsbabys. Wir fressen keine Babys, egal von welchem Tier. Bei uns heißt das Grosnick.“
„Ach so! Du meinst, ihr habt Grundsätze.“
„Ja, wir haben Grundsätze. Aber alles verbotene Futter heißt Grosnick – jedenfalls bei Höhlenkäuzen.“
„Mein bester Freund Philipp hat mit mir über Grundsätze gesprochen. Sein Vater musste einmal einen Fuchswelpen töten, weil er und
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