Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
die Knochen übrig gelassen.“
„Ist doch klar, oder?“ Der Rabe legte den Kopf schief und schaute Coryn an.
„Äh … mir ist leider gar nichts klar.“
„Na ja, der kleine Hamisch hat ’nen Hinkefuß. Bei der Jagd ist er nutzlos, deswegen steht er in der Rangordnung ganz unten und darf erst als Letzter fressen. Aber die anderen Wölfe glauben, dass er ein Knochennager ist.“
„Und was bedeutet das?“
„Das hab ich selber nie so ganz kapiert. Soll wohl so ’ne Art Kunst sein. Aus den benagten Knochen errichten die Wölfe ihre Knochenhügel – die sind weiter westlich, bei den Heiligen Vulkanen.“
Coryn schwirrte der Kopf von all den neuen Wörtern. „Knochenhügel? Vulkane?“, wiederholte er fragend. Schließlich war er hergekommen, um etwas zu lernen.
„Weißt du auch nicht, was ein Vulkan ist, Kleiner?“
„Leider nicht.“
„Siehst du die Berge da drüben, die Rauch und Feuer spucken? Das sind Vulkane. Der Rauch und das Feuer kommen aus dem Krater, das ist die Öffnung ganz oben. Aber jetzt hab ich genug gequasselt. Wollen doch mal sehen, ob noch ein Fetzen Fleisch an den Rentierknochen hängt. Du wartest am besten, bis wir halbwegs satt sind, dann kannst du dazukommen. Ich sag meinen Kumpels Bescheid.“
„Danke.“
„Kein Problem. Weißt du, alle denken, dass die Hinterlande eine wilde Gegend sind, wo jeder macht, was er will. Das stimmt aber nur zum Teil. Hier landen ’ne Menge Ausgestoßene, die woanders nicht klarkommen: Diebe, Nesträuber, Mörder, Söldner und so weiter. Trotzdem halten wir uns an gewisse Regeln. Du hast ja selber gesehen, wie die Wölfe das Rentier erbeutet haben. Keiner hat bei der Jagd so ’ne gute Taktik wie die Wölfe – echt keiner! Ich würde meine beiden Flügel hergeben, wenn ich dann so schlau werden könnte wie ein Wolf.“
Coryn machte ein ungläubiges Gesicht.
„Doch, ich mein’s ernst, Kleiner.“ Der Wolfsvogel schwang sich in die Lüfte. „Tschüss. Man sieht sich beim Kadaver!“
Es war die erste, aber nicht die letzte Mahlzeit, die Coryn und der namenlose Rabe teilten. Aber es war Coryns erste Begegnung mit dem hinkenden Jährling Hamisch. Coryn wurde bald klar, dass die anderen Wölfe Hamisch nicht nur verachteten, sondern auch fürchteten. Sie brachten ihm eine seltsame Mischung aus Mitleid und Ehrfurcht entgegen. Hamisch war wie Coryn ein Ausgestoßener und darum hätte Coryn ihn gern besser kennengelernt. Coryn durfte sich nicht von seiner Aufgabe ablenken lassen, doch etwas zog ihn zu dem jungen Wolf hin. Als die Wölfe wieder aufbrachen, folgte er ihnen.
Als Nächstes hetzten die MacDuncans einen Elch. Einen Tag und eine Nacht lang trieben sie ihn vor sich her. Der Elch flüchtete in den Fluss, aber als er wieder aus dem Wasser herauswollte, konnte er nur mit letzter Kraft das steile Ufer erklimmen. In diesem Augenblick stürzten sich die Wölfe auf ihn. Abermals beobachtete Coryn die geheimnisvolle Zwiesprache zwischen Jäger und Opfer und abermals kribbelte es ihn dabei im Magen. Dann fielen die hungrigen Wölfe über den toten Elch her. Sie hörten gar nicht mehr auf zu fressen. Die ebenfalls hungrigen Raben hielten es nicht länger aus und die Wölfe scheuchten sie ausnahmsweise nicht weg. Nur Hamisch wurde wie üblich verjagt.
Als der Morgen dämmerte, entdeckte Coryn am gegenüberliegenden Flussufer einen riesigen Bären. Philipp hatte ihm von Grizzlybären erzählt und der Beschreibung nach war das hier ein Grizzly. Wölfe und Raben traten den Rückzug an. Der Grizzly hätte ihnen mit einem einzigen Tatzenhieb die Köpfe abreißen können.
Die Wölfe wollten sich aber nicht dauerhaft von ihrer Beute vertreiben zu lassen. Schließlich war es eine lange, anstrengende Jagd gewesen. Tief ins hohe Gras geduckt, kreisten sie den Bären ein. Dann sprangen ihn sechs Wölfe gleichzeitig an. Zwei gruben die Zähne in sein Hinterteil, einer versuchte, ihn in die Schnauze zu beißen, und zwei schnappten nach seinem Bauch. Der sechste Wolf sprang kläffend vor dem Bären herum. Der Grizzly schlug mit seinen mächtigen Pranken um sich. Einer der Wölfe flog jaulend durch die Luft, die anderen ließen von ihrem Gegner ab.
Der Bär machte sich wieder über den Elchkadaver her. Coryn war inzwischen halb verhungert. Er war gegenüber den Wölfen im Vorteil, weil er wegfliegen konnte. Als er es gar nicht mehr aushielt, stieß er sich von seinem Felsvorsprung ab und flog über dem Elch auf der Stelle. Der Bär sah ihn, fraß aber
Weitere Kostenlose Bücher