Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
weiter. Coryn flog niedriger. Der Bär hob nicht einmal den Kopf. Er riss dem Elch das Fleisch von den Rippen. Coryn hielt Abstand und pickte an den Hinterläufen des Kadavers herum. Der Bär würdigte ihn keines Blickes. So fraßen sie eine Weile einträchtig Seite an Seite. Coryn hörte jedoch, wie sich die Wölfe wieder näherten. Wahrscheinlich hatte sein Erfolg sie ermutigt.
Ohne sich umzudrehen, sagte er über die Schulter: „Passt mal auf, ihr MacDuncans: Schickt Hamisch vor, wartet kurz ab und dann kommt alle dazu.“ Er staunte selbst darüber, wie ruhig er war, so ruhig wie das Auge eines Orkans. Er spürte förmlich, wie die Wölfe die Ohren anlegten und sich unterwürfig duckten.
Dann kam Hamisch angehumpelt und hockte sich neben Coryn. „So viel Fleisch bin ich gar nicht gewohnt. Meistens nage ich nur die Knochen ab.“
„Ich weiß“, erwiderte Coryn.
Nach ein paar Minuten wagten sich die anderen Wölfe heran. Auch sie hielten respektvoll Abstand vom Oberkörper der Beute, wo der Bär fraß. Sie achteten sogar darauf, dass Coryn immer zwischen ihnen und dem Grizzly blieb.
Hin und wieder hoben die Wölfe die blutverschmierten Schnauzen und musterten den Eulerich. Noch nie hatten ein Bär, ein Rudel Wölfe und eine Eule in Eintracht an einem Beutetier gefressen. Tausende von Jahren lebte ihresgleichen schon in den Hinterlanden und dies war das allererste Mal! Und ausgerechnet der junge Neuankömmling hatte das Wunder vollbracht. Die Wölfe waren erstaunt und beunruhigt zugleich. Die alten Legenden kamen ihnen in den Sinn. Sie dachten an die Heiligen Vulkane, die seit alter Zeit von Mitgliedern ihres Clans bewacht wurden. In einem dieser Vulkane hatte einst ein anderer Eulerich mit außergewöhnlichen Fähigkeiten die sagenumwobene Glut von Hoole versteckt.
Fern von den Hinterlanden, auf der Insel Hoole mitten im Hoolemeer, schmiedete zur selben Zeit eine Fleckenkäuzin heimlich ihre Pläne. Nicht einmal Otulissas engste Freunde aus der Brigade der Besten ahnten, dass sie den Baum verlassen wollte. Dass sie keine Begleitung haben würde, machte Otulissa nichts aus, dass sie mehr oder weniger auf gut Glück losfliegen musste, störte sie allerdings gewaltig. Aber das ließ sich nun mal nicht ändern. Nur der alte Ezylryb ahnte etwas von ihrem Vorhaben, äußerte sich aber nicht dazu. Es war leichter, einem Stein ein Lied zu entlocken, als dem Alten einen Rat. Mit seiner Nesthälterin Oktavia war es nicht anders.
Alles hatte im Sommer angefangen. Otulissa hatte auf einmal den Geisterschnabel von Strix Struma in ihrer Nähe gespürt. Strix Struma war ihre geliebte Lehrerin gewesen, die in der Schlacht mit den Reinen gefallen war. Nyra selbst hatte ihr einen Flügel abgerissen. Otulissa hatte Nyra darauf aus Rache das Gesicht aufgeschlitzt und sie so für ihr Leben gezeichnet.
Otulissa glaubte eigentlich nicht an Geister, aber seit ihr Strix Struma erschienen war, beschäftigte sie sich mit übersinnlichen Erscheinungen. Sie ging dabei genauso gründlich vor wie immer. Sie holte sich ein Buch aus der Bücherei, das sie sonst niemals aufgeschlagen hätte. Der Titel lautete: Übernatürliche Erscheinungen in der Eulenwelt seit Hooles Zeiten – Forschungen, Fallstudien und Auswertungen. Der Verfasser war ein Uhu namens Stronknorton Fievels. Otulissa hatte den Titel für ein Werk über Hokuspokus immer reichlich hochtrabend gefunden. So hatte sie früher gedacht. Als sie nun darin las, verstand sie plötzlich einiges, was ihr bei ihren Begegnungen mit Strix Strumas Geisterschnabel Rätsel aufgegeben hatte. Der Verfasser des Buches beschrieb eine unfreiwillige Stummheit, mit der viele Geisterschnäbel ausgerechnet dann geschlagen waren, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen hatten. Als ihr Strix Struma zum ersten Mal erschienen war, hatte Otulissa sich gerade mit dem Feuerzyklus aus den Legenden von Ga’Hoole beschäftigt. Ezylryb hatte sie aufgefordert, sich noch einmal den dritten Gesang im zweiten Buch durchzulesen. Seine Bedeutung war umstritten. Otulissa glaubte an einen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen des Geisterschnabels und den Versen über die Glut von Hoole. Sie hatte immer angenommen, dass sich der Feuerzyklus ausschließlich auf König Hoole bezog. Nun aber kam ihr der Verdacht, dass noch von einer anderen Eule die Rede war – von einem zukünftigen König, dem die Glut von Hoole zur Macht verhelfen würde. Das war ein verheißungsvoller, aber auch beunruhigender Gedanke, und
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