Die Legende der Wächter – Der Zauber
Coryn überrascht.
„Davon gehe ich aus.“ Soren dämpfte die Stimme. „Hör zu, Coryn: Bess ist das am besten gehütete Geheimnis der ganzen Eulenwelt. Als wir sie damals verließen, mussten wir ihr schwören, dass wir nur noch drei anderen Eulen von unserer Begegnung berichten würden. Diese drei Eulen waren Otulissa, Ezylryb und Strix Struma.“
„Und selbst dazu mussten wir sie noch überreden. Das war harte Arbeit!“, mischte sich Morgengrau ein. „Aber ihr müsst Coryn noch von den steinernen Anderen erzählen.“
Coryn riss die Augen auf. Er brachte vor Staunen kein Wort heraus.
„Ach ja, richtig. Bess veranstaltete für uns eine Führung durch die Universität. Wir flogen erst in Kreisen abwärts und dann am Fuß des Turms zwischen den Säulen eines Gartens hindurch. Dort standen steinerne Bilder.“
„Steinerne Bilder?“, wiederholte Coryn verständnislos.
„Du kennst doch die Gemäldefetzen, die Ellie immer anschleppt, oder?“, fragte Morgengrau.
„Klar.“
„Die steinernen Bilder waren so etwas Ähnliches. Nur waren sie nicht auf Leinwand gemalt, sondern aus Stein gemeißelt. Viele der Figuren stellten Tiere dar, sogar ein ulkiger Vogel war darunter. Und einige waren Abbilder der Anderen. Aber entweder fehlte ihnen der Kopf oder die Köpfe hatten keine Körper.“
„Verrückt!“, entfuhr es Coryn. „Waren die steinernen Anderen irgendwann mal lebendig gewesen?“
„Nein. Sie waren Kunstwerke, so wie die Gemälde.“
„Die Steinfiguren waren aber längst nicht das Spannendste, was wir entdeckt haben“, sagte Gylfie.
„Also ich finde das schon ganz schön spannend!“, entgegnete Coryn.
„Gylfie meint die Karten“, sagte Soren. „Solche Karten hatten wir noch nie gesehen.“
„Wie meinst du das?“
Von draußen fiel lilafarbenes Licht in die Baumhöhle. Das sogenannte „Lavendel“ war der Vorbote der Abenddämmerung. Bald würde das erste Dunkel anbrechen. Sie hatten den ganzen Tag lang erzählt. Beinahe hoffte Coryn, die Sonne möge nicht untergehen – ein ganz uneulenhafter Wunsch. Eulen leben eigentlich erst richtig auf, wenn es dunkel wird, wenn am schwarzen Nachthimmel eine schmale Mondsichel steht oder die silberne Scheibe des vollen Mondes über dem Horizont schwebt. Heute Abend jedoch sehnte sich Coryn nicht nach dem Silberlicht und nicht nach den Freuden eines nächtlichen Fluges. Er sehnte sich danach, in der Baumhöhle sitzen zu bleiben und weiter den fantastischen Geschichten über rätselhafte Entdeckungen zu lauschen, Geschichten über die trauernde Bess und über Schätze, die nicht aus Gold oder Edelsteinen waren.
„Die Karten“, fuhr Soren fort, „zeigten nicht die Eulenwelt. Auf ihnen waren weder das Hoolemeer noch das Wintermeer eingezeichnet. Weder die Nordlande noch die Südlande. ‚Wo sind denn die Eulenländer?‘, fragte ich Bess.“
Coryn beugte sich gespannt vor. „Was hat sie geantwortet?“
„Dass es sich um Karten vom Anderswo handele.“
„Das Anderswo liegt noch jenseits unserer Hinterlande“, erläuterte Digger mit gedämpfter Stimme. Die weißen Federbrauen über seinen Augen ließen seinen Blick noch eindringlicher wirken. Ob er sich gerade jenen fernen Ort vorstellte?
Coryn konnte das alles noch nicht recht begreifen. „Soll das etwa heißen, es gibt eine Welt außerhalb der Eulenwelt? So wie …“ Er streckte den Kopf ins Freie und schaute zum Himmel empor.
„So ist es“, bestätigte Gylfie. „Sogar der Himmel sieht dort anders aus, weil es andere Sternbilder gibt. Die Goldenen Krallen, der Kleine und der Große Waschbär lassen sich dort nur selten blicken. Es ist eine ganz andere Welt – das Anderswo eben.“
„War einer von euch schon mal dort?“ Coryn schaute erst seinen Onkel an und dann der Reihe nach die anderen drei. Aber die Bande schüttelte einhellig die Köpfe.
„Bess ist die Einzige, die weiß, wie man dort hinkommt. Sie findet sich im Anderswo zurecht, auch wenn die Sternbilder anders aussehen.“ Gylfie wiegte bewundernd den Kopf. „Bess ist unwahrscheinlich klug.“
„Darum nennen wir sie auch ‚die Wissende‘“, setzte Soren hinzu.
Es war Nacht geworden. Der Wind hatte sich gedreht und stand günstig. Sie nahmen wieder Kurs auf Ambala, kamen aber nur langsam voran, weil sie nicht geschlafen hatten und müde waren. Kurz nach Mitternacht drehte sich der Wind erneut. Er wurde zu einem böigen Gegenwind, der statt von Schneegestöber von Regenschauern begleitet wurde.
„Das hat
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