Die Legende der Wächter – Der Zauber
senkte sie den Blick auf die Knochen vor ihren Füßen. ‚Das sind Grimbels Gebeine‘, sagte sie. Mein Magen sagte mir dasselbe.“
Abermals übernahm Gylfie das Weitererzählen. „Wir schilderten Bess, wie wir ihren Vater kennengelernt hatten. Dass er uns das Fliegen beigebracht und uns damit das Leben gerettet hatte. Und dass er uns auch von seiner Lieblingstochter erzählt hatte.“
Gylfie machte eine kurze Pause. „Bess konnte das kaum glauben. Sie hatte immer gedacht, ihr Vater hätte die Familie im Stich gelassen. Wir konnten ihr berichten, dass die Häscher von Sankt Äggie Grimbel damiterpresst hatten, der Familie etwas anzutun, wenn er nicht mit ihnen mitkäme.“
„Da tropften ihr zwei dicke Tränen aus den gelben Augen.“ Auch Sorens Augen wurden feucht. „‚Jetzt verstehe ich alles!‘, rief sie aus. ‚Und wir dachten, er hätte uns nicht mehr lieb gehabt und uns deswegen verlassen.‘“
Soren schloss die Augen wieder und sprach stockend weiter, als konzentrierte er sich angestrengt auf seine Erinnerung: „Wir erzählten ihr, dass sich ihr Vater an einem Ort, der Feiglinge heranzüchtete, seine Tapferkeit bewahrt hatte. Dass sein Edelmut dem der Wächter von Ga’Hoole in nichts nachstand. Als wir sie fragten, wie seine Gebeine in den Turm gekommen seien, antwortete sie, dass das Adlerpaar Blitz und Donner der Familie seine sterblichen Überreste überbracht habe. Bess hatte die Gebeine dann in den Glockenturm getragen, weil sie an die alte Sage glaubte, die ihr Vater ihr erzählt hatte.“
Digger ergriff das Wort. „Die anderen Familienmitglieder hatten Bess gewarnt, dass sie bis in den fernen Silberschleier-Wald fliegen müsse, um einen Glockenturm zu finden. Aber dann hatte sie den Turm im Tal entdeckt. Ihr gefiel der Ort, weil er so versteckt lag. Das Tosen des Wasserfalls klang wie Musik in ihren Ohrschlitzen. So hatte sie sich immer Glaumora vorgestellt und darum hatte sie jeden Tag dieses Lied für ihren Vater gesungen. Sie hoffte, dass er in Glaumora angekommen war und auf Erden nichts mehr zu erledigen hatte, damit er nicht als Geisterschnabel umherspuken musste.“
„Bestimmt weilte Grimbel längst in Glaumora“, setzte Soren hinzu. „Uns kam es eher so vor, als wäre Bess selbst ein Geisterschnabel. Eine Geisterkäuzin, die keine Ruhe findet, weil sie auf Erden noch etwas zu erledigen hat.“
Coryns Magen wurde eiskalt. War seine Mutter Nyra inzwischen vielleicht auch ein Geisterschnabel? Und wenn ja, was hatte sie dann auf Erden noch zu erledigen?
„War das denn nun eine Burgruine, in der Bess um ihren Vater trauerte?“, fragte Coryn. „Gab es dort überall Gegenstände aus Gold und Silber, so wie die Sachen, mit denen Krämer-Ellie handelt?“
„Auch … aber wir fanden dort noch etwas viel Wertvolleres“, antwortete Soren.
„Nämlich?“
„Bücher und Landkarten“, erwiderte Digger mit leuchtenden Augen. „Und nicht nur eine einzige Bibliothek, sondern sogar mehrere. Bess meinte, die Ansammlung von Steinhöhlen sei früher eine ‚Universität‘ gewesen, ein Ort des Lernens. Aber Bess nannte es ein Schloss – das Nebelschloss.“
Der Höhlenkauz schätzte jede Art von Bauwerk. Wie schon sein Artenname besagte, beherrschte er die Kunst, unterirdische Gänge, Höhlen und Nester auszuschachten, in denen zu leben andere Eulen sich nicht vorstellen konnten. Deshalb hatte er damals vor allem bewundert,wie passgenau die Steine der Universität aneinandergefügt waren und wie sich das ganze Gebäude hinter dem Dunstvorhang des Wasserfalls verbarg.
„Das Nebelschloss …“, wiederholte Coryn versonnen.
„Und stell dir vor, Coryn“, der sonst so bedächtige Digger sprudelte auf einmal richtig los, „die Felswand bildete die Rückseite! Und es gab gleich vier Glockentürme! Aber keine der vier Glocken hatte einen Klöppel.“
„Bubo hätte doch bestimmt welche schmieden können“, meinte Coryn.
„Das wollte Bess nicht“, entgegnete Soren. „Außer ihr selbst waren wir die einzigen Eulen, die das Schloss bis dahin entdeckt hatten. Sie wollte, dass es geheim blieb. Und sie meinte, sie brauche keinen Glockenklöppel, um ihren Papa nach Glaumora emporzusingen. Ich höre sie noch sagen: ‚Ich selbst bin der Klöppel. Ich selbst bin das Geläut.‘ Und wäre keine Glocke da gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich auch noch in eine Glocke verwandelt. Sie ist eine bemerkenswerte Eule und außergewöhnlich klug.“
„Ja, lebt sie denn noch?“, fragte
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