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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Beuzaboc hatte Wasser auf den Tisch gestellt, sein Zigarettenetui auf die runde Marmorplatte des einbeinigen Tischchens gelegt und schon zu sprechen angefangen, bevor er sich setzte. Er konnte gut erzählen. So gut, dass ich mich dabei ertappte, ganze Sätze mitzuschreiben, ohne ein Wort auszulassen. Seine Kindheit erwähnte er kaum, die Mutterstarb, als er dreizehn war, der Vater war auch Eisenbahner. Lupuline habe darauf bestanden, dass das Buch keine Lebensbeschreibung würde, sondern ein Zeugnis des Widerstands. Sie wolle die Geschichten darin lesen, die er ihr als Kind erzählt habe.
    »Der Widerstand …«, hatte der alte Mann gelächelt und sich in den Sessel zurückgelehnt.
    Dann erzählte er von dem Fahrradausflug. Damit würde die Biographie beginnen. Da war ich mir sicher. Peitschender Regen, Sturmböen, drei Jungs, die im November über eine Landstraße strampeln. Die Operation sollte nicht bei ihnen zu Hause steigen, in der Nähe von Lille, wo ihr Alltagsleben stattfand. Der Junge aus Béthune hatte den Gemeindefriedhof von Annequin ins Spiel gebracht. Von ihm kam auch der Vorschlag, sie für eine Nacht in der Eisenbahnersiedlung unterzubringen. Damit sie ein wenig ausruhen, duschen, etwas Warmes essen, ein paar Gläser Wein trinken könnten. Und um die Blumen zu gießen.
    Beuzaboc erzählte, wie sie am 11. November 1940 gegen acht Uhr früh in Annequin ankamen. Kurz vor dem Dorf legten sie die Räder in einen Graben und schlugen sich in die Büsche. Deloffre hatte den Blumenstrauß in der Satteltasche, eine Handvoll müder rosa Zyklamen mit purpurn geflämmten gekräuselten Blättern. Maes hatte eine kleine französische Fahne unterm Hemd versteckt, zwischen Haut und Leibchen. Die stammte noch von einem Jahrmarkt vor dem Krieg, weil er immer alles aufhob. Beuzaboc hatte ein englisches Fähnchen gebastelt, das, um einen dünnen stählernen Stab gewickelt, in seiner Socke steckte. Die Proportionen waren frei erfunden. Das mittlere rote St.-Georgs-Kreuz war ebensobreit wie das schräge St.-Patricks-Kreuz. Das weiße Andreaskreuz wirkte verhungert, und der Hintergrund erinnerte eher an das Blau des Himmels als an das des Meeres.
    »Es ist trotzdem der Union Jack«, beruhigte ihn Deloffre.
    »Nein, die Union Flag, die Fahne der Einheit. Union Jack sagt man nur auf See«, erwiderte Beuzaboc lächelnd.
    Er nahm ein Stück Papier aus seiner Jackentasche und spießte es auf den stählernen Mast. Darauf kritzelte er ein paar Worte mit Bleistift, in seiner Handschrift:
    In Treue zu unseren englischen Freunden.
    Gezeichnet: 3 junge Franzosen
    Der Regen hatte aufgehört. Beuzaboc band die beiden Fahnen mit einem weißen Band zum Strauß. Sie nahmen ihre Fahrräder wieder auf. Das Dorf war verlassen, die Kirche geschlossen und das Friedhofstor offen.
    »Links von der Hauptallee«, hatte der Eisenbahner aus Béthune gesagt.
    Beuzaboc, Maes und Deloffre gingen raschen Schritts den Weg entlang. Da war es. Acht rundliche Stelen aus grauem Stein standen im Kies. Acht britische Soldaten, im Ersten Weltkrieg auf französischem Boden gefallen. Auf gut Glück entschieden sie sich für das zweite Grab. Albert Osborne, Artillerist Nummer 59 390 im 9. Bataillon der Royal Field Artillery, am 6. Juli 1915 mit 22 Jahren im Kampf gefallen. Etwas weiter weg reinigte eine Frau mit Kopftuch ein Grab von den Unwetterschäden. Sie schaute zu den Jungen. Die hatten die Mützen abgenommen. Einer kniete sich hin, um den Blumenstrauß auf das Grab zu legen.
»Rest in peace.«
Dann standen sie da vor dem eingravierten Kreuz, ein, zwei Minuten vielleicht, die Finger zum militärischen Gruß an dieSchläfe erhoben. Ein Hund bellte in der Ferne. An den Fenstern der Backsteinhäuser war niemand zu sehen. Die Frau richtete sich auf. Hielt inne, erhob sich, die Kanne zwischen den Fingerspitzen, beunruhigt oder gerührt. Dann setzten sie ihre Mützen wieder auf und stiegen aufs Rad.

    Ich sah hoch. Mein Vater verfolgte mich. Ich hörte seine kraftlose Stimme, sah die Fahnen, den roten Panther. Beuzaboc streckte seine Hand mechanisch zum Tischchen aus. Aber er hatte seine Zigarette schon geraucht. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs weiße Haar.
    »Das war mein erster Akt des Widerstands«, sagte der alte Mann.
    Und lächelte nachdenklich.
    »Ich bin sehr stolz auf diese Geste. Für mich ist es die schönste. Lupuline hat die Geschichte mit den Herbstblumen nie sonderlich interessiert. Sie fand sie ›niedlich‹. Das hat sie gesagt, daran

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