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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Goss mir Wasser nach, sah auf die Uhr und legte sie wieder ums Handgelenk.
    Es war nach 17 Uhr. Ich machte eine Geste des Bedauerns. Verstaute Stifte, Heft und Notizbuch in meiner Aktentasche. Entfaltete meine Jacke und zog sie an. Beuzaboc war sitzen geblieben. Nun stemmte er sich mithilfe seines Stocks empor. Er kam mir immer noch riesig vor, obwohl er so gebeugt, so schweigsam, so reglos war. Dann ging er aus dem Zimmer. Sah mich an der Eingangstür, schon auf der Schwelle, noch einmal an, lächelte, gab mir die Hand und sagte: »Bis Dienstag.«

7
    Sonntag, 10. November 1940. Tescelin Beuzaboc und zwei befreundete Eisenbahner machten sich auf den Weg von Lille in das kleine Dorf Annequin. Achtundvierzig Kilometer durch Regen und starken Wind. Mit dem Fahrrad. Sie legten mehrere Pausen ein und beschlossen, die Nacht in Béthune zu verbringen, bei einem Genossen der Klasse 37. Am nächsten Morgen wollten sie ganz früh auf dem Friedhof sein. Sie warteten auf den Tagesanbruch und tranken dabei eine Menge. Und kauten immer wieder die Niederlage durch, das Debakel, die Katastrophe.

    Sechs Monate davor, am 10. Mai, um 6 Uhr morgens, waren sie mit den Männern der VII. französischen Armee nach Belgien aufgebrochen, am 12. Mai im Süden Hollands auf die Deutschen gestoßen. Sie hatten sich gut geschlagen, dann an Boden verloren, waren vor dem Feuer immer weiter zurückgewichen, von Kanal zu Fluss, von Fluss zu Ebene, im wilden Durcheinander der Zivilisten auf der Flucht. Am 16. Mai erging der Befehl zum allgemeinen Rückzug. Beuzaboc teilte Zwiebeln und ein paar Brocken Brot mit Holländern und Belgiern, die genauso verängstigt waren wie er. Dann nahmen die Deutschen sie in die Zange. GeneralGiraud geriet in Gefangenschaft. Der Gefreite Beuzaboc entkam. Am selben Abend zerstreute ein Luftangriff den kleinen Trupp Flüchtiger. Drei Flugzeuge hintereinander belegten eine steinerne Brücke mit Maschinengewehrfeuer. Sie flogen so niedrig, dass die Bäume bebten. Beuzaboc warf sich auf die rechte Seite der Brücke, seine beiden Kameraden auf die linke. Von da an war er allein.
    In der Nacht stellte er sein Gewehr, hinter einem Reisigbündel versteckt, an eine Scheunenwand, warf seinen Patronengürtel in einen Weiher und entledigte sich auch seines Helms und seines Bajonetts. Am nächsten Tag traf er beim Verlassen des Dorfes einen belgischen Soldaten, der aus einem bombardierten Zug geflohen war und durch die Gegend irrte. Beuzaboc hatte noch ein ganzes Würstchen in seinem Beutel, der Belgier ein Päckchen Zigaretten in seiner Jacke. Fünf Tage marschierten die beiden Besiegten gemeinsam.
    Nach dem Waffenstillstand hatte Beuzaboc die beiden Kameraden wiedergefunden, die sich für die andere Seite der Brücke entschieden hatten.
    Und mit ihnen radelte er nun an diesem Montag, dem 11. November 1940, frühmorgens gegen Sturmböen nach Annequin.
    »Erinnern Sie sich an die Namen Ihrer beiden Freunde?«
    Beuzaboc sah mich an, als hätte er die Frage nicht verstanden.
    »Welche Freunde?«
    »Die beiden, die mit Ihnen auf dem Fahrrad unterwegs waren, erinnern Sie sich nicht?«
    Der alte Mann nahm seine Zigarette aus der Blechdose auf dem Tischchen und zündete sie an. Er beobachtete mich. Inseinem Blick flackerte Verwirrung auf. Ob er sich nicht erinnere? Natürlich erinnere er sich. Wie sollte er zwei Waffenbrüder vergessen, mit denen er Seite an Seite erst Angriff, Kampf und Stolz, dann Rückzug, Flucht und Niederlage erlebt habe? Klar sehe er sie noch vor sich, im Regen auf dem Fahrrad, hintereinander, mit offenem Mund, die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Viel später, im Widerstand, hätten seine Kampfgenossen nur noch Codenamen gehabt, anonyme Pseudonyme, an diesem Tag auf der Landstraße jedoch hätten die Kameraden noch die Namen ihrer Väter getragen. Constant Deloffre und Georges Maes. Hinter Beuvry sei Deloffre ein Reifen geplatzt. Ich schrieb mit. Notierte alles. Deloffre, Maes, Beuvry.
    »Sie werden sich noch in den Einzelheiten verzetteln«, murmelte der alte Mann.
    Lächelnd sah ich auf. Ich würde nicht alle Details benutzen. Man sollte, erläuterte ich, sogar das Muster des Wachstuchs auf dem Küchentisch kennen, wenn man eine Geschichte erzählen wolle. Ich müsse die Bewegungen hören und die Worte sehen können. Je mehr Farben und Töne ich hätte, desto lebendiger werde das Buch.
    »Und das gilt auch für einen Platten?«

    Die zweite Sitzung hatte mit einem ordentlichen Händedruck begonnen.

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