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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Essen und gegen den Deutschen.« Aber mehr kam nicht.
    Er erzählte durcheinander, wie es ihm gefiel oder gerade einfiel. Von der anglophilen Tradition seiner Gegend, die durch die Prüfungen des Ersten Weltkriegs geprägt sei, der Hölle an der Somme 1916, den Kämpfen der Eisenbahner. Von der Zwischenkriegszeit. Wie in den Straßen von Lille Kohle in Eimern verkauft wurde, wie die zylindrische Gasmasken-Verpackung,
boîte à ragout
genannt, den Damen als Einkaufskorb diente. Wie sie tagtäglich die Zeit totschlugen während des Sitzkriegs. Erzählte vom Fronttheater und Fußballspielen zwischen französischen Soldaten und
tommies.
Von der Invasion, von der Niederlage. Dem besonderen Status der Départements Nord und Pas-de-Calais, denen Hitler »Deutschtum« attestierte, der Angst der Bevölkerung vor einer Annektion ihrer Heimat, die zum Sperrgebiet erklärt und dem deutschen Militärkommando von Belgien unterstelltwurde. Und wie man die Oper von Lille zum deutschen Theater umschminkte.
    Beuzaboc entfernte sich von unserem Buch. Zweimal versuchte ich, ihn wieder zurückzuholen. Seinen Platz in diesem Fresko zu finden, ihn in den Fokus zu stellen inmitten dieser Massen, die er für mich mobilisierte. Und beide Male verstand er mich anscheinend nicht.
    »Schreiben Sie’s auf, es wird Ihnen sicher helfen«, sagte er, nachdem er mir Karl Niehoff buchstabiert hatte, den Namen jenes deutschen Generals, der ab Juli 1940 für die zwei nördlichen Départements zuständig war.
    »Juli 1940, schreiben Sie’s auf.«
    Die Hitze wurde immer größer. Trotz des offenen Fensters und der geschlossenen Fensterläden lag die Luft schwer wie ein dicker Stoff in dem Zimmer. Meine Wasserflasche war fast leer, seine Zigarette noch unberührt. Es war eine sinnlose Sitzung. Ausführlich erläuterte er, dass die deutsche Militärpräsenz in keinem anderen Département so groß war. Städte, Dörfer, Weiler – der Besatzer war überall. Alles wurde requiriert. Nicht nur Garnisonen, offizielle Gebäude, Rathäuser, Kasernen und Hotels, auch in Bürgerhäusern beanspruchten einige Offiziere eine Privatunterkunft. Ob bescheidene Hütte oder Bauernhof – überall wurde freier Zutritt verfügt, und Männer von Rang schlugen dort ihr Quartier auf. Nicht selten sah man Feldgraue auf Familienfotos posieren oder eine französische Familie beim Sonntagsnachmittagsspaziergang begleiten.
    Ich hatte keine Jacke an. Ich trocknete mir mit einem Taschentuch die Stirn, und Beuzaboc hörte zu sprechen auf. Er wirkte verärgert. Zündete sich seine Zigarette an. UnsereStunde war vorbei. Über seine Brillengläser hinweg beobachtete der alte Mann, wie ich meine Notizen wegpackte.
    »Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte er.
    Ich lächelte. Schüttelte den Kopf. Er beeindruckte mich immer noch. Das Wort »Enttäuschung« lag mir auf der Zunge, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Wir mussten wieder auf unseren Weg zurückfinden. Ich versuchte, ihm vorsichtig beizubringen, dass das, was heute von ihm gekommen war, nicht unbedingt Eingang finden würde in unser Werk. Dass alles ein bisschen zu allgemein war. Dass wir auf ihn und seine persönlichen Kriegserlebnisse zurückkommen müssten.
    Er blies den Rauch aus. Tätschelte mit der Hand seinen Stock.
    »Ich bin vielleicht die Hauptperson, aber Sie brauchen doch auch ein Bühnenbild.«
    »Ich sehe Sie nicht in diesem Bühnenbild.«
    »Was meinen Sie?«
    »Ihre geistige Verfassung zum Beispiel.«
    »Wann?«
    »Im Sommer 1940.«
    »Da gab es weder Geist noch Verfassung.«
    Ich musste über sein Wortspiel schmunzeln. Beuzaboc lächelte nicht.
    »Sie sind wie Lupuline. Als sie klein war, wurde ihr die Geschichte vom Grab des englischen Soldaten bald langweilig. Sie wollte etwas Beeindruckenderes, Größeres hören. Sie hat mich mit Noël-Noël verwechselt.« Er blickte mich an. »Sie wissen, wer das ist?«
    »Der Darsteller des
père tranquille

    »Genau. Sie verwechselte mich mit dem stillen Vater. Hören Sie mir zu?«
    »Ich höre Ihnen sehr genau zu.«
    »Aber Sie wollen immer etwas Persönliches von mir hören.«
    »Es ist schließlich Ihre Biographie.«
    »Es ist auch eine kollektive Erfahrung. Ich will nicht nur von mir sprechen, für mich, als wäre nichts und niemand drum herum gewesen, verstehen Sie?«
    »Ich verstehe.«
    »Ich will mich nicht irgendwelcher Sachen rühmen, nichts für mich reklamieren. Ich habe nie um Ehren oder Orden gebeten. Verstehen Sie das?«
    Jetzt hörte ich wieder

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