Die Legende unserer Väter - Roman
seines Zimmers. So verstand Lupuline meine Arbeit. Ihr Vater wisse besser als jeder andere, was er zu sagen habe. Niemand dürfe ihm etwas diktieren. Lupuline klang bestimmt. Ein neuer Ton. Ihr Vater habe gesagt, ich forschte nach Dokumenten, läse Bücher, besuchte Museen und Friedhöfe. Was ich denn da zu finden hoffte? Indizien? Ihr Vater habe sogar von »Beweisen« gesprochen.
»Mein Vater ist fast vierundachtzig. Sie sollten nicht weiter fragen, als er reden will. Die Hitze macht ihm sehr zu schaffen. Und nach den Gesprächen mit Ihnen leidet er immer noch mehr und ist völlig erschöpft.«
Lupuline sprühte sich Mineralwasserspray ins Gesicht. Sie behandelte mich wie einen Bauarbeiter in Verzug. Ich solle mich auf die Kriegserlebnisse ihres Vaters konzentrieren. Das sei kein historisches Werk. Ich solle sein Leben ins Reine schreiben, bessere, lebendigere Worte finden, unzusammenhängende Sätze, Daten, Fakten in Ordnung bringen und den Memoiren die Atmosphäre von Erinnerungen wiedergeben. So. Das sei meine Aufgabe. Und darauf zu achten, dass Beuzaboc regelmäßig Wasser trinke.
Ich nickte. Mir tat alles weh, vom Nacken bis zum Kreuz. Lupuline trocknete sich die Füße mit einem Taschentuch. Zog die Sandalen wieder an. Stand auf. Und strich mit beiden Händen über ihr Kleid.
»Verschweigen Sie mir etwas?«
Nein. Die Hitze mache jeden fertig, das sei alles. Ich fände Beuzaboc beeindruckend und stark. Ich grübe, erklärte ich, nicht nach Indizien oder Beweisen, sondern nach noch mehr Juwelen. Das machte ich sonst nicht. Nie. Ich hörte meinen Klienten zu und schriebe auf, was sie sagten, und sei es noch so unwahrscheinlich. Doch diesmal, bei diesem Mann und dieser Geschichte, hätte ich mir selbst eine höhere Disziplin auferlegt.
Ich hielt inne. Lupuline hatte anscheinend anderes erwartet. Also kam ich auf meinen Vater zu sprechen.
»Ihr Vater?«
Ich begleitete sie zur Metro. Erzählte von den
Corps francs
, dem Résistance-Netz
Vengeance
. Erzählte ihr alles, fast alles. Dass mein Vater mir sein Vertrauen verweigert hatte. Dass er zu mir gesagt hatte, es sei zu spät für die Geschichte, und die Ehre habe die Geduld verloren. Dass er als Versicherungsvertreterin den Krieg gezogen und gleich danach wieder Versicherungsvertreter geworden war. Ich sprach über seine kurzsichtigen Augen. Seinen schwachen, anfälligen Körper. Seine grauen Anzüge. Seine Stimme, die von seinen Taten murmelte. Über all die Menschen, die nie an seiner Tapferkeit, an seiner Verhaftung, an seiner Verschleppung gezweifelt hätten. Deshalb hätte ich mich vielleicht, womöglich, wahrscheinlich Beuzaboc gegenüber so ungeschickt benommen. Mich auf die Spur ihres Vater gesetzt, als ob es meiner wäre. Diese atemberaubende Parallele habe mich mitgerissen, der Wunsch, auf den einen Vater so stolz zu sein wie auf den anderen, als ob es sich um dessen Wiedergänger handelte. Sie würde es dennoch nicht bereuen, dass sie mich angerufen habe. Es sei die richtige Wahl gewesen. Ich würde mich künftig zurückhalten und mit ihrem alten Herrn so sprechen, wie man mit alten Herren spricht. Ich bat sie um Entschuldigung.
Am Eingang zur Metro blieb sie stehen. Fixierte mich.
»Zweifeln Sie, Monsieur Frémaux?«
»An meinem Vater?«
»An meinem.«
»Ich verstehe nicht.«
In meinem Kopf pochte es. Lupuline sah über meine Schulter hinweg auf die Stadt. Dann nahm sie mich sanft am Arm – wir behinderten den Eingang zur Metro – und führte mich zu einem Geschäft gegenüber. Mein Rücken dem Schaufenster zugewandt, ihrer der Straße. Zündete sich eine Zigarette an. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie rauchte. Sie blickte mich fragend an.
»Was wollen Sie wissen?«, fragte ich.
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Ich sah müde drein. Spürte die Zähne der Falle.
»Alles, was Sie wissen sollten, wird in der Biographie stehen.«
Das war so dahingesagt. Ein Zufallssatz. Ich wartete.
Lupuline gab mir lächelnd die Hand. Eine ganz zarte Berührung, fast nur ein Hautkontakt.
»Das war nicht die richtige Antwort.«
»Was wäre die richtige Antwort?«
Sie behielt meine Hand in der ihren.
»Alles, was mein Vater mir erzählt hat, wird in der Biographie stehen. Das wäre die richtige Antwort gewesen.«
Ich war verdutzt. Endlich lächelte sie. Mit ruhiger Miene und geradem Blick. Kein Beuzaboc-Gehabe, sondern Lupulines Strahlen.
»Schonen Sie mich, Monsieur Frémaux. Anders, als ich zu Ihnen gesagt habe, bin ich ein Kind,
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