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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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an.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Und Ihnen? Das Bein?«
    Anscheinend hatte er Schmerzen, sein Hinken war stärker als sonst. Er legte die Hand auf seinen linken Schenkel.
    »Das könnte doch unser heutiges Thema sein.«
    »Ihr Bein?«
    »Der 10. April 1944, als ich verwundet wurde.«
    »Schießen Sie los.«
    Lächelnd schlug ich mein Notizbuch auf. Beuzaboc hatte noch eine Zigarette in seiner Brusttasche. Er trank ein Glas Wasser, nahm die Brille ab und erzählte. Erzählte so, wie ich es mochte. Wie über den Friedhof von Annequin. Mit seiner Stimme, seinen Augen, einem Zittern seiner Hände. Ohne sich von mir abzuwenden. »Er sagt die Wahrheit«, schrieb ich auf die linke Seite.
    Der 9. April 1944 war ein Ostersonntag. Erstkommunikantinnen in weißen Musseline-Kleidchen lachten in den Straßen. Die Frauen hatten die Schürze gegen ein Kleid getauscht. Die Männer stießen miteinander an. Tescelin Beuzaboc wohnte in Lomme, in der Rue Anne-Delavaux. Er teilte sich dort eine Eisenbahnerwohnung mit winzigem Garten, fließendem Wasser, Strom und Abfluss mit einem Typ vom Depot Délivrance, Julius oder Jules oder Julien, das habe er vergessen. Der Typ schlief im Schlafzimmer, Tescelin auf dem Wohnzimmersofa. Er ging früh zu Bett an diesem Abend. Um Mitternacht flog die englische Luftwaffe einen Angriff auf das Depot von Lille. Zwanzig Minuten. Beuzaboc fiel von seiner Couch. Fuhr zitternd in eine Hose, ein Hemd und ein Paar Schuhe, ohne Socken. Bomben schlugen überall ein, im Rangierbahnhof, in den Werkstätten, in die Arbeitersiedlung.
    »Ich war taub, voller Gips und Zement.«
    Ich schrieb mit und schaute ihm dabei in die Augen.
    Eine zweite Bomberstaffel stürzte sich auf die Stadt. Beuzabocsaß mit dem Rücken an einer Wand, an die ihn die Druckwelle einer Explosion geschleudert hatte. Die Arbeiterhäuser waren nicht sicher. Es gab keinen Keller, keine Zuflucht. Kinder, Frauen, Männer drängten sich in der Flammenhölle. Weitere zwanzig Minuten zerhackten die Bomben die Stadt. Beuzaboc wollte aufstehen. Doch etwas hielt ihn am Boden fest und warf ihn nach vorn, zerschmetterte ihm den Mund auf dem Trottoir. Etwas hatte ihn in der Leistengegend getroffen oder in den Oberschenkel, eine riesige Kugel Schmerz, er könne es nicht beschreiben. So viele Jahre danach wisse er immer noch nicht, wie er davon erzählen, seine Qual schildern solle. Er sprach von »Todesweh«. Ich zuckte zusammen. Schrieb dieses kostbare Wort auf und kreiste es rot ein.
    Sein linker Oberschenkel war gebrochen, an mehreren Stellen durch Stahlsplitter zerschmettert. Das Fleisch bis weit nach innen hinein verbrannt. Splitter steckten in Wade und Knöchel. Er sah sein Bein an. Den Himmel. Die brennende Stadt. Dann wieder sein Bein und seine blutigen Hände, die den Schenkel zusammenpressten. Dann kippte er zur Seite.
    Am nächsten Morgen waren vierhundertsechsundfünfzig Zivilisten tot und mehrere hundert verletzt, tausend Gebäude vollkommen zerstört und dreitausend weitere beschädigt.
    Das wars. Beuzaboc trank ein Glas Wasser. Er hob die Hand zum Zeichen, dass die Geschichte zu Ende sei. Und er müde. Und ich ihn in Ruhe lassen solle.
    »Sie konnten Ihr Bein retten?«
    »Die konnten mein Bein retten«, erwiderte Beuzaboc.
    Dann stand er auf. Auf den Stock gestützt, gebeugt. Die Sitzung hatte nur fünfunddreißig Minuten gedauert.
    »Ich begleite Sie zur Tür.«
    Ich war irgendwie enttäuscht. Wieder einmal hatte ich nicht genug Material. Und was war danach geschehen? Nach der Verwundung? Wie sah die Stadt am nächsten Morgen aus? Die Toten, die Verwundeten, die Ruinen, die herumirrenden Schatten. Das hätte ich mir zum Schreiben gewünscht. Beuzaboc auf einer Trage oder von Menschenarmen hochgehoben. Ich wollte ihn schluchzen hören, um seinen Schmerz zu finden. Mir fehlten das Splittern von Metall und der Schrei des Fleisches, aber ich fühlte, dass alles wahr war. Ich war mir sicher, dass Beuzaboc wirklich da war in dieser Nacht, in dieser Hölle, dass er durch eine Straße aus Staub lief und von einem Stahlhagel zu Boden geworfen wurde, versehrt für sein Leben.
    Der alte Mann war mir vorausgegangen. Öffnete die Eingangstür. Gab mir die Hand.
    »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater?«
    Ich sagte Ja. Nur Ja. Nichts anderes. Lupuline hatte ihm anscheinend von meiner Beichte berichtet. Ich war schon auf der Schwelle, als Beuzaboc mich zurückhielt.
    »Wissen Sie, an wen ich dachte im Bombenhagel?«
    »Nein, weiß ich nicht.«
    »An

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