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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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hoch, Beuzaboc in die Augen. »Gestern um 14.45 Uhr fiel Madame Louise Debarbieux, wohnhaft in Roubaix, Rue Decrême 154, am Boulevard Carnot, Ecke Rue des Jardins, aus der Straßenbahn Mongy und verletzte sich leicht am Ellbogen. Den Vorschlag, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen, lehnte sie ab. Sie wollte lieber nach Hause gehen.«
    »Warum lesen Sie mir das vor?«, fragte Beuzaboc.
    »Weil es am 2. Januar 1941 passiert ist.«
    »Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.«
    »Das ist an diesem Donnerstag wirklich passiert.«
    »Ich verstehe nicht.«
    Der alte Mann erhob sich mühsam. Ich stand bereits.
    »Auffallend, dass die Zeitung eine Dame erwähnt, die sich die Ellbogen aufschürft, und den Mord an einem deutschen Soldaten übergeht.«
    »Und? Was glauben Sie denn? Die wahren Informationen standen damals nicht in der Zeitung, sondern klebten an den Mauern, als Anschlag auf Deutsch und Französisch.«
    »Ich habe dieses Plakat gesehen. Die zehn Erschießungen und fünfzig Deportationen. Die Antwort auf die Hinrichtung eines deutschen Soldaten am 20. April 1942, fünfzehn Monate später.«
    Der alte Mann erstarrte.
    »Sie zweifeln an meinen Worten.«
    Ich machte meine Aktentasche zu.
    »Sie zweifeln an mir, ist es das?«, wiederholte Beuzaboc. Ich fühlte, wie mir der Schweiß an den Beinen hinunterrann. »Sagen Sie es!«
    Er hatte sich aufgerichtet. Stand, eine Hand auf dem Stock, mitten im Zimmer. Die vom Ventilator umgerührte Luft bliesseine Haare nach vorn. Drei Knöpfe seines Hemds standen offen. Es war aus der Hose gerutscht und hing über seinen Rücken. Wieder einmal beeindruckte er mich. Tescelin Beuzaboc war wie ein schönes Tier. Ich musste an meinen Vater denken. Das war ungerecht. Pierre Frémaux war klein, blass, mit verschwommenen Augen hinter dicken Brillengläsern. Als Kind hatte ich Probleme gehabt, mir seine Kraft vorzustellen.
    »Wenn Sie an mir zweifeln, sagen Sie es«, wiederholte der alte Mann sanft.
    »Das sage ich nicht.«
    Ich war gescheitert, innerlich tot und voller Scham. Ich hatte Zweifel, natürlich zweifelte ich. Wieder einmal, einmal mehr, ein Mal zu viel. Die Lüge ließ mich schaudern. Ich sah auf. Traf auf seinen stählernen Blick, seine Ruhe, sein Schweigen. Wir gaben einander nicht die Hand. Beuzaboc blieb im Zimmer stehen, hoch aufgerichtet im drückenden Schatten.

16
    Am nächsten Tag bat Lupuline mich gegen Abend um ein Treffen. Nicht in meinem Büro, sondern draußen. Also trafen wir uns auf der Place de la République und setzten uns an den Rand des großen Springbrunnens vor dem Palais des Beaux-Arts. Der Himmel glühte. Lupuline zog ihre Schuhe aus, rote Sandalen mit breiten Riemen in Form von schlummernden Eidechsen, und steckte ihre Füße bis zu den Knöcheln ins Wasser. Es war lange her, dass ich die Haut einer Frau berührt hatte. Ihre war sehr weiß.
    »Ich weiß, dass es ein Problem gibt, und ich will, dass Sie mir davon erzählen.«
    Ich blickte auf meine Straßenschuhe und meine Baumwollsocken. Junge Männer gingen in Shorts und barfuß.
    »Ihrem Vater fällt es schwer, sich jemandem anzuvertrauen.«
    »Er hat gesagt, Sie waren barsch.«
    Lupuline planschte im Wasser. Streichelte mit dem rechten Fuß ihren linken Knöchel. Sah mich nicht an, während sie sprach, sondern beobachtete spielende Kinder weiter weg. Ich zuckte mit den Achseln. Das machte ich sonst nie. Eine überflüssige, unhöfliche Geste.
    »Ich habe ihn vielleicht gedrängt.«
    »Sie haben ihn verhört wie ein Gendarm, hat er gesagt.«
    Noch ein Achselzucken. Mir fehlten die Worte, meinen Verdacht zu gestehen. Ich hatte weder Lust noch den Mut dazu. Ich betrachtete die auf dem Pflaster liegenden Sandalen. Und beobachtete Lupuline. Sie verstummte wie ihr Vater. Das Beuzaboc’sche Schweigen, misstrauisch und feindselig.
    »Er sagt, Sie geben ihm nichts mehr zu lesen.«
    »Weil er mir keine Antworten mehr gibt.«
    Lupuline wandte sich wieder mir zu. Mit zur Seite geneigtem Kopf, überrascht.
    »Antworten? Es ist nicht seine Aufgabe, Ihnen Antworten zu geben, er soll nur erzählen.«
    Hier sprach die Kundin. Sie zahlte. Und sie wollte, dass es mit dem Buch weiterging und ihr Vater froh war, seine Zustimmung gegeben zu haben. Sie wollte nicht, dass er sie nach jeder Sitzung anrief, um sich zu beschweren. Antworten? Wozu? Ein Biograph schreibt auf, er recherchiert nicht. Er hört zu, wie das Kind den Geschichten lauschte, auf dem Bauch liegend, den Kopf in die Hand gestützt, im Dunkel

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