Die Legende unserer Väter - Roman
manchmal geraucht hatte, wenn er aus Brüssel kam. Dann lagen sie im Flur neben seinen Schlüsseln und ein paar belgischen Münzen. Die gezeichnete Frauenbüste im goldenen Rahmen auf rotem Grund nahm das ganze Päckchen ein: das Gesicht ein perfektes Oval, die Augen schwarz, der Mund etwas betont, die hellen, rötlichen Haare zu geflochtenen Schnecken gesteckt, die die Ohren verbargen. Sie trug einen runden schwarzen Hut mit breiter Krempe und einem vergoldeten Federbusch, der in den strohgelben Schal um ihren Hals überging.
»Rauchen Sie?«, fragte Beuzaboc, als er ins Zimmer trat.
Ich zuckte zusammen, verneinte und legte die Dose auf das Tischchen zurück.
»Und Sie? Warum nur eine pro Tag?«
Der alte Mann betrachtete das Etui. Nachdem er während des Debakels 1940 Maes und Deloffre im Maschinengewehrfeuer an der Brücke verloren habe, habe er mit einem belgischen Soldaten den Rückzug angetreten. Zwei Geschlagene in ihrer nutzlosen Uniform unter angsterfüllten Zivilisten, die mit Bündeln auf dem Rücken, erschöpften Pferden und Handkarren vorbei an stehen gelassenen Autos in langen Kolonnen über die Landstraße zogen. Fünf Tage lang seien sie marschiert, hätten im Gestrüpp geschlafen, unter einem abgestorbenen Baum, in einem ausgetrocknetem Wasserspeicher, in einer Kapelle ohne Dach. Der Belgier kam aus dem Städtchen Slijpe, fünf Kilometer von Dixmude entfernt. Flupken, so hieß er, hatte ein Päckchen Belga in der Jackentasche,Beuzaboc eine in blaues Papier gewickelte Knoblauchwurst in seinem Brotbeutel. Davon schnitt der Franzose täglich vier dünne Scheiben ab, zwei für sich, zwei für den Belgier. Der wiederum brach jeden Abend eine Zigarette in der Mitte durch. Eine Belga pro Tag, bis sie sich trennten, am 22. Mai in Laon. Da gab Beuzaboc dem Belgier die Hälfte seiner restlichen Wurst, und Flupken teilte mit ihm drei zerknautschte Zigaretten: eine für sich, eine für Beuzaboc, die letzte teilte er wieder. Lange trug Beuzaboc die ganze Zigarette in seiner Jackentasche mit sich herum. Hütete sie wie seinen Bleistift, sein Essgeschirr, seinen Löffel und seine Decke. Doch eine Gewitternacht im durchnässten Mantel überstand die Zigarette nicht. Da kaute Beuzaboc den feuchten Tabak in seinen Fingern wie einen Priem.
Und dann, viele Jahre nach dem Krieg, sah er wieder ein rotes Belga-Päckchen in einem Café in Mons: die Dame mit dem breitkrempigen Hut und dem goldenen Federbusch, den Haarschnecken und dem strohgelben Schal. Flupken, der belgische Soldat, nannte sie »das Frauchen«,
het vrouwke
. Er hatte mit ihr gesprochen im Schützengraben der Niederlage, das Päckchen auf Augenhöhe vor sich. Er hatte sie gefragt, welchen Weg er einschlagen sollte. Sich auf sie verlassen. Manchmal zu ihr gebetet, sie ab und zu geküsst. Einmal, nachts, hatte er sogar ein Liebeslied für sie gesungen.
Beuzaboc hörte mit fünfzig zu rauchen auf. Er reduzierte seinen Konsum von zwei Päckchen täglich auf eines, von zehn Zigaretten auf fünf, schließlich von fünf Zigaretten auf eine. Seit dreißig Jahren rauchte er nie mehr als die eine Zigarette. Belga, die Lupuline ihm aus Mouscron mitbrachte. Wenn man ihn fragte, warum, erzählte er anfangs von seiner Jugend,von der Niederlage und von Flupken. Dann hörten die Leute auf, ihm diese Frage zu stellen. Und er hörte auf, an seine Jugend zu denken. Er habe sich einfach an den herben Geschmack gewöhnt. 1960 kaufte er auf einem Brüsseler Flohmarkt die rotweiße Blechdose mit dem Markenemblem. Weil
het vrouwke
auf dem Deckel war, lächelnd, elegant, und ihm manchmal zuhörte.
Der alte Mann war erschöpft. Ich gab vor, meine Notizen zu ordnen. Der Ventilator stand jetzt in der Mitte des Zimmers. Ich saß am Tisch, Beuzaboc in seinem Sessel.
»Ich habe nichts über die Hinrichtung des Soldaten in der Presse gefunden«, sagte ich plötzlich, bevor ich mich erhob. Und machte meine Aktentasche zu.
»Sie haben danach gesucht?«
»Ja.«
»Und?«
»Nichts. Nur Kleinkram.«
Ich schlug mein Notizbuch mit dem violetten Lesebändchen auf.
»In ›Le Grand Echo du Nord‹ vom 3. Januar 1941 habe ich die folgende Meldung gefunden. Vom Tag Ihrer Aktion. Sie handelt vom Mongy, der Tram, in der Sie einen deutschen Soldaten getötet haben.«
»Und was steht in der Meldung?«
»Nichts über Fives, nichts über Trompette, nichts über Sie.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Hören Sie, was an dem Tag passiert ist.« Ich las langsam und sah immer wieder vom Text
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