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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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das man beruhigen muss.«
    Ich holte tief Luft. Ich fand sie schön. Mit einem Blick versuchte sie, sich zu vergewissern, ob ich sie richtig verstanden hatte.
    »Sind wir uns einig?«
    Ich nickte. Lupuline Beuzaboc ließ meine Hand los, zögerte einen Augenblick. Streifte mich zum Abschied mit drei Fingern und murmelte: »Für unsere Väter!«

17
    »Wer wird unsere Gräber mit Blumen schmücken?«
    »Wie bitte?«
    »Wer wird morgen Blumen auf unsere Gräber legen?«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    Beuzaboc machte eine unbestimmte Bewegung. Hob den Stock, der zwischen seinen Beinen stand, und stellte ihn heftig zurück. Er war im Unterhemd. Ich hatte beim Hereinkommen den Ventilator höhergestellt. Das Thermometer im Bücherregal zeigte 39 Grad. Seit ein paar Minuten sprach der alte Mann über den Friedhof von Annequin, genauer gesagt, die Straße nach La Passée. Beschrieb Maes und Deloffre auf dem Fahrrad. Fragte sich, was für ein Gesicht Albert Osborne, der junge Engländer, den sie sich für ihre Ehrenbezeugung ausgesucht hatten, wohl gemacht hätte. Ich solle mir das doch bitte mal vorstellen: Drei junge Franzosen, die einander kaum kannten, legten Blumen auf das Grab eines zweiundzwanzigjährigen Unbekannten, der vor fünfundzwanzig Jahren gefallen sei. Nur um sich lebendig zu fühlen.
    »Wer wird einen Strauß auf unsere Gräber legen, um sich lebendig zu fühlen?«
    Beuzaboc lachte, öffnete das Zigarettenetui, fuhr sich mitder Hand durch die Haare und wischte sich die Handfläche auf seiner hellen Leinenhose ab.
    »Machen wir weiter?«, fragte er dann.
    Ich nickte. Ich wollte über Ascq sprechen. Den Anschlag am Bahnübergang und das S S-Massaker zur Vergeltung. Aber ich wollte keine neuen Zweifel vorbringen. Ihm noch eine Chance geben. Ihm Zeit zur Erklärung lassen. Und Lupuline beruhigen.
    Es war unsere achte Sitzung. Die Geschichte von den Blumen auf Osbornes Grab war geschrieben, gegengelesen und korrigiert. Auch die vom Tod des Deutschen. Und das Abenteuer mit Wimpy, dem auf dem Bauernhof versteckten englischen Flieger. Das war wenig. Eigentlich gar nichts. Als ich am Vorabend alles noch einmal durchgelesen hatte, fühlte ich, wie das Schweigen um jedes Wort schlich, der ganze Text roch nach Zaudern. Nach dem einen lichten Moment am Friedhof von Annequin kam nur noch Grau in Grau. Mir fielen die richtigen Sätze zum Tod des deutschen Soldaten nicht ein. Zwei, drei Formulierungen hatte ich mir notiert. Doch mein Schreiben kam an diesen Moment nicht heran. Da tötete ein Mann einen anderen. Und dann? Nichts. Keine Begeisterung, kein Zorn, keine Traurigkeit, keine Schönheit. Ich, der Wortverliebte, hatte nur farblose, matte Begriffe gefunden. Ich spürte nichts vom Krieg. Sah die düstere Stadt, die gesenkten Köpfe nicht vor mir. Hörte die Stiefel nicht. Empfand weder Angst noch Hunger. Der Text war misslungen. Ich wusste es. Irgendetwas fehlte. Ich beobachtete Beuzaboc, der mit geschlossenen Augen rauchte. Er fehlte. Er war nicht in der Geschichte. War nie drin gewesen. Er gab nichts preis. Riss sich keine Gedächtnisfetzen aus dem Fleisch.
    Von Wimpy hatte Beuzaboc ähnlich abwesend erzählt. Dabei war es eine großartige Geschichte. Zwei vom braunen Tod verfolgte Männer, besiegte Soldaten, schweigend, wartend. In einer Traumscheune verkrochen. Sie essen, wenn es dunkel wird. Keiner spricht die Sprache des anderen. Sie träumen, trinken, denken an den Krieg, während die Stunden vergehen. Zwei Menschen, die so allein sind, dass sie darüber lachen. Und dann erzählt einer von ihnen, der Jüngere, dreiundsechzig Jahre danach von diesen Tagen. Ohne Leidenschaft, ohne Schwung, mit tonlosen Worten. Als ich nach der Sitzung meine Notizen durchlas, stolperte ich wieder über die Formulierung: »Die bleiche Morgenröte, die das Gesicht wächsern tönt.«
    Das war gewagt. Ich hatte sie gewählt, um Wimpys Anblick bei Tagesanbruch zu beschreiben. Ich las sie noch einmal und noch einmal. Dann strich ich sie. Das war eindeutig mehr, als Beuzaboc gesagt hatte. Zu groß für seine Art, sich zu erinnern. Eigentlich war ich der Erzähler. Der Interpret. Der, der die Fragen stellte und oft auch die Antworten gab. »Die bleiche Morgenröte, die das Gesicht wächsern tönt.« Sorgfältig schrieb ich die Wendung noch einmal hin. Ich wollte mich nicht von ihr trennen. Mir lag an ihr. Sie würde ihren Platz anderswo finden, auf einer mir noch unbekannten Seite, die ich einmal schreiben würde.

    Beuzaboc starrte mich

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