Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
deportiert, 389 von ihnen kamen dabei um, 16 blieben verschollen.«
    Ich blickte ihn an.
    »Wissen Sie, warum ich Ihnen diese Zahlen vorlese?«
    »Ich kann es mir denken.«
    »Sagen Sie es mir.«
    »Das alles lässt sich überprüfen.«
    »Genau. Das Gedächtnis ist intakt. Es hinterlässt Spuren. Mein Vater war Leutnant, Kommandant einer Einheit, dann Chef einer Sektion. Er kannte den Klarnamen seines Chefs, seiner Kameraden, er erinnerte sich an jede Operation. Verstehen Sie?«
    »Ich glaube schon.«
    »Er hatte eine Zugehörigkeitsbescheinigung des französischen Inlandswiderstands. Er hatte eine fiktive Identität. Einen fiktiven Grad. Bei der Befreiung wurde sein Netz aufgelöst. So war das Verfahren. Sie wissen das.«
    »Ich weiß das.«
    »Und jetzt erzählen Sie mir von Ascq. Bitte.«
    Ich senkte den Kopf. Auf die linke Seite schrieb ich: »unzufrieden mit mir«. Ich war nicht stolz auf mich. Wieder einmal war ich unhöflich und roh gewesen. Dabei hatte ich vor ein paar Tagen Lupuline mein Wort gegeben. Ich sollte ihrem Vater zuhören. Zuhören und mitschreiben. Berichten, was er sagte. Ungenauigkeiten oder Fehler nicht so ernst nehmen, die Wahrheit sei nicht so wichtig. Ich sah auf. Das Gesicht des alten Mannes war erschlafft, die Brauen hatten sich gesenkt, der Mund war weich und offen. Ich wartete. Notizbuch und Stift in der Hand. Er sah mich an. Ich sah ihn an. Ohne Herausforderung, ohne Ironie. Ich hatte nur meinen Blick auf den Rand seiner Augen gerichtet.
    »Was spielen Sie für ein Spiel?«, fragte der alte Mann. SeineStimme klang müde. »Sie spielen mit mir. Von Anfang an spielen Sie mit mir.«
    Ich wollte protestieren. Aber ich konnte nicht. Ich war zu keiner Bewegung, zu keinem Wort fähig. Das Zimmer umschloss uns wieder. Und ich blieb stumm.

    Dann stand er auf. Schwerfälliger noch als sonst, auf seinen Stock gestützt, mit schmerzverzerrtem Gesicht wegen seines steifen Beins.
    »Würden Sie mir bitte folgen?«
    Ich dachte, jetzt wirft er mich hinaus. Doch statt zum Ausgang ging er in den Flur, der hinter ihm lag. Dort gab es eine Tür, die ich nicht kannte. Er öffnete sie und trat beiseite, um mich vorbeizulassen. Dann schaltete er das Licht an. Und ich erkannte das Zimmer. Schnappte nach Luft. Atmete Blei. Rechts stand das Bett Lupulines. Auf dem Bücherbord der Globus. Es roch nach Wachs und Staub. Das Zimmer war noch erstickender als der Rest der Wohnung. Beuzaboc war nie umgezogen. Er hatte das Zimmer seiner Tochter für seine Enkel bewahrt. Doch es wurde nie genutzt.
    »Setzen Sie sich auf das Bett.«
    Ich bat ihn, das Fenster öffnen zu dürfen. Die Läden waren geschlossen. Dann setzte ich mich auf die Bettdecke. Er schaltete das Licht im Globus an und löschte die Lampe. Mühsam, mit ausgestrecktem linkem Bein, ließ er sich auf dem niedrigen Hocker nieder. Dann sah er sich um. Ich hatte Notizbuch und Stift mitgenommen. »Unzufrieden mit mir«, sagte die linke Seite. Ich beobachtete Beuzaboc.
    »Hier war es.«
    Lupuline lag auf der Seite mit dem Rücken zur Wand, dieWange auf ihrem Arm. Er nahm mitten im Zimmer Platz auf dem Hocker. Erzählte, aber nicht lang. Nie mehr als fünfzehn Minuten. Am nächsten Tag nahm er die Geschichte dort wieder auf, wo er stehengeblieben war.
    »Sie hätten ihren Blick sehen sollen, wenn ich erzählte.«
    Er suchte nach einem Wort. Sprach von Stolz. Eines Abends, nach dem Tod des deutschen Soldaten, sei Lupuline aufgestanden, habe ihre Arme um Beuzabocs Hals gelegt und »mein Papa« geflüstert. In dieser Nacht sei er mit vor Glück leuchtenden Augen aus ihrem Zimmer gegangen. Dank Wimpy habe sie auch fürs Englische geschwärmt. Und es brav im Lycée gelernt. Wenn der Flieger eines Tages wieder käme, habe sie gesagt, wenn er als alter englischer Herr an der Tür klingeln sollte, um ihren Vater zu besuchen und mit ihm auf den Frieden anzustoßen, dann würde sie, Lupuline Beuzaboc, die Freude des einen und die Rührung des anderen dolmetschen.
    Tescelin Beuzaboc hatte seinen Stock auf den Boden gestellt. Als hörte er auf, sich zu schützen. Er legte die Hände auf seine Schenkel und sah mich an. Mechanisch schrieb ich ein paar Worte auf die rechte Seite.
    »Wann haben Sie es herausgefunden?«
    Ich blickte ihn an.
    »Weil Sie es wussten, stimmt’s?«
    Ich nickte.
    »Wann haben Sie es herausgefunden?«
    »Sehr bald. Ich hatte schon in der dritten Sitzung Zweifel.«
    Er presste die Lippen zusammen.
    »Und? Was machen wir jetzt?«
    »Ich weiß es

Weitere Kostenlose Bücher