Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Denn Chade nickte, hob den Blick von den Flammen und sah mich an.
»Nun ja. Genug davon. Ich werde dich nicht fragen, wie du einen solchen Eindruck auf sie gemacht hast oder wodurch ihre Gefühle für dich auf einmal umgeschlagen sind. Vorige Woche ist sie zu Listenreich gegangen und hat verlangt, daß du als Chivalrics Sohn und Erbe anerkannt werden und die einem Prinzen gebührende Erziehung erhalten sollst.«
Mir wurde heiß und schwindelig. Bewegten sich die Wandteppiche, oder spielten meine Augen mir einen Streich?
»Selbstverständlich hat er das Ansinnen abgelehnt«, fuhr Chade gnadenlos fort. »Er versuchte auch, ihr die Gründe zu erklären – empörte Proteste der Barone und Herzöge, schlimmstenfalls Bürgerkrieg und ob es für einen Jungen gut ist, wenn wir ihn unvorbereitet mit einer solchen Situation konfrontieren?«
»Oh«, sagte ich leise. Was hatte ich in diesem einen kurzen Augenblick empfunden? Euphorie? Wut? Angst? Ich wußte nur, der Augenblick war vorbei, und fühlte mich seltsam entblößt und gedemütigt, daß diese unsinnige Hoffnung mich so aus der Fassung hatte bringen können.
»Aber Philia blieb hartnäckig und wiederholte nur ständig: ›Ihr seid der König, Ihr habt die Macht. Bereitet den Jungen vor, und wenn er soweit ist, urteilt selbst.‹ Nur sie konnte das verlangen und dazu in Gegenwart von Veritas und Edel. Veritas hörte schweigend zu und zweifelte nicht am Ausgang des Gesprächs. Edel hingegen war rot wie ein Zischhahn. Er gerät viel zu leicht in Harnisch. Der gesunde Menschenverstand hätte ihm sagen müssen, daß sein Vater keine diplomatischen Verwicklungen heraufbeschwören würde, um seiner ungeliebten Schwiegertochter gefällig zu sein. Doch Listenreich weiß, wann es angebracht ist, Kompromisse zu machen. In allem anderen gab er ihr nach, hauptsächlich, nehme ich an, um vor ihr Ruhe zu haben.«
»In allem anderen?« fragte ich begriffsstutzig.
»Manches zu unserem Nutzen, manches zu unserem Schaden. Oder wenigstens zu unserer verdammten Unbequemlichkeit.« Chade hörte sich gleichzeitig verärgert und freudig erregt an. »Ich hoffe, du bringst es fertig, deinen Tag um ein paar Stunden zu verlängern, denn ich bin nicht bereit, ihretwegen bei meinen Plänen Abstriche zu machen. Philia hat darauf bestanden, daß du entsprechend deiner Herkunft erzogen wirst. Und sie will diese Aufgabe selbst übernehmen. Musik, Poesie, Tanz, Gesang, Etikette ... Vielleicht bringst du mehr Geduld dafür auf als ich. Obwohl Chivalric dieser Firlefanz nicht abträglich war, manchmal kamen ihm die Kenntnisse sogar gut zupaß. Wie auch immer, es wird dich viel Zeit kosten. Abgesehen davon sollst du bei Philia Page sein, obwohl du eigentlich schon zu alt bist. Meiner Meinung nach bedauert sie vieles und möchte Versäumtes nachholen, ein Benehmen, das in der Regel zum Scheitern verurteilt ist. Du mußt deine Waffenübungen einschränken. Und Burrich wird nichts anderes übrigbleiben, als sich einen anderen Stallburschen zu suchen.«
Die Waffenübungen waren mir egal. Wie Chade mir oft gesagt hatte, ein wirklich guter Assassine arbeitete diskret und lautlos. Wenn ich mein Gewerbe beherrschte, brauchte ich nie mit einer langen Klinge gegen jemanden anzutreten. Doch meine Zeit mit Burrich – wieder dieses unbehagliche Gefühl, nicht zu wissen, wie ich zu ihm stand. Ich haßte Burrich. Manchmal. Er war unduldsam, diktatorisch und besaß nicht das geringste Einfühlungsvermögen. Er forderte von mir Perfektion und ließ gleichzeitig keinen Zweifel daran, daß ich nicht auf Lob zu hoffen brauchte. Doch er war auch offen und ehrlich und glaubte, daß ich das Zeug hatte, seinen Anforderungen gerecht zu werden.
»Du fragst dich wirklich, in welcher Weise sie uns genützt hat«, fuhr Chade fort. Ich hörte die unterdrückte Erregung aus seiner Stimme heraus. »Es geht um etwas, das ich zweimal für dich zu erwirken versuchte, und beide Male wurde es mir verweigert. Doch Philia hat Listenreich in den Ohren gelegen, bis er sich einverstanden erklärte. Die Gabe, Junge. Du wirst in der Gabe ausgebildet.«
»Die Gabe«, wiederholte ich, ohne zu begreifen, was ich sagte. Das alles ging zu schnell für mich.
»Ja.«
Ich kramte fieberhaft in meinem Gedächtnis. »Burrich hat mir einmal davon erzählt. Vor langer Zeit.« Plötzlich fiel mir wieder ein, in welchem Zusammenhang er darauf gekommen war. Nachdem Nosy zufällig unser beider Geheimnis
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