Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
verraten hatte. Burrichs Worten zufolge war die Gabe das Gegenteil des Sinnes, der mich mit den Tieren verband und mit dessen Hilfe ich die Veränderung in den Bewohnern von Ingot erkannte. Mußte ich damit rechnen, daß mich die Förderung des einen von dem anderen befreite? Oder war es ein Verlust? Ich dachte an die Zusammengehörigkeit mit Pferden und Hunden, die ich empfand, wenn Burrich nicht in der Nähe war. Voller Wehmut mußte ich an Nosy denken. Weder vorher noch nachher hatte ich mich einem anderen Lebewesen so nahe gefühlt. Würde die Ausbildung in der Gabe mir das nehmen?
»Was ist denn, Junge?« Chades Stimme klang freundlich besorgt.
»Wieso?« Auch ihm wagte ich mich nicht anzuvertrauen. »Was soll denn mit mir sein?«
»Dir sind Geschichten über die Ausbildung zu Ohren gekommen.« Er nickte verständnisvoll. »Keine Sorge, Junge, so schlimm kann es nicht sein. Chivalric hat es überlebt. Veritas ebenfalls. Und aufgrund der Bedrohung durch die Roten Korsaren hat Listenreich beschlossen, die Einschränkungen aufzuheben und weitere aussichtsreiche Kandidaten zur Ausbildung zuzulassen. Er will eine Gruppe von Kundigen schaffen, zur Unterstützung dessen, was er und Veritas mit der Gabe zu bewirken vermögen. Ich halte die Idee für ausgezeichnet. Mir als Bastard ist damals der Zugang zu dem exklusiven Kreis verwehrt geblieben, deshalb habe ich keine genaue Vorstellung davon, in welcher Weise die Gabe zur Verteidigung unseres Landes genutzt werden kann.«
»Du bist ein Bastard?« platzte ich heraus. Die Enthüllung fegte das ganze verworrene Durcheinander meiner Gedanken zur Seite. Chade starrte mich an, als wäre er ebenso erstaunt wie ich.
»Selbstverständlich. Ich dachte, das hättest du längst gemerkt. Junge, für jemanden mit deiner Beobachtungsgabe bist du für manche Dinge erstaunlich blind.«
Ich musterte Chade, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Die Ähnlichkeit war vorhanden. Die Stirn, die Ohren, die Form der Unterlippe. »Du bist Listenreichs Sohn«, vermutete ich ins Blaue hinein, aber schon bevor er antwortete, wurde mir klar, daß ich Unsinn geredet hatte.
»Sohn?« Chade lachte grimmig. »Er würde sauer dreinschauen, wenn er das gehört hätte. Aber die Wahrheit behagt ihm noch weniger. Er ist mein jüngerer Halbbruder, Junge, nur wurde er im ehelichen Bett empfangen und ich während einer Militärkampagne in der Nähe von Sandsedge.« Weicher fügte er hinzu: »Meine Mutter gehörte zur Truppe, als es geschah, aber sie kehrte nach Hause zurück, um mich zur Welt zu bringen, und heiratete später einen Töpfer. Als sie starb, setzte ihr Mann mich auf einen Esel, gab mir eine Halskette, die sie immer getragen hatte, und befahl mir, sie dem König in Bocksburg zu bringen. Ich war zehn. Es war ein langer, schwerer Weg von Rocken nach Bocksburg in jenen Tagen.«
Darauf wußte ich nichts zu sagen.
»Genug davon.« Chade richtete sich auf. »Galen wird dich in der Gabe ausbilden. Listenreich hat es ihm befohlen. Er mußte sich schließlich fügen, aber tat es nur unter Vorbehalt. Niemand wird sich in seinen Unterricht einmischen oder einen seiner Schüler zu beeinflussen suchen. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich kann nichts dagegen tun. Sei eben auf der Hut. Du weißt über Galen Bescheid?«
»Nur was man so redet.«
»Davon abgesehen.«
Ich holte tief Luft und überlegte. »Er nimmt seine Mahlzeiten allein ein. Ich habe ihn nie am Tisch gesehen, weder bei den Soldaten noch im Speisesaal. Ich habe nie erlebt, daß er müßig bei Leuten steht und plaudert, nicht auf dem Übungsplatz, nicht im Wäschehof oder in einem der Gärten. Er ist immer irgendwohin unterwegs, wenn man ihn trifft, und immer in Eile. Er kann nicht mit Tieren umgehen. Die Hunde mögen ihn nicht, und bei den Pferden hat er eine so harte Hand, daß er ihnen das Maul ruiniert und den Charakter. Ich schätze, er ist ungefähr in Burrichs Alter. Er kleidet sich gut, fast so extravagant wie Edel. Ich habe gehört, wie man ihn einen Vasall der Königin nannte.«
»Weshalb?« fragte Chade rasch.
»Hm, das ist schon lange her. Ach ja, Gage. Er ist ein Soldat. Eines Nachts kam er zu Burrich, nicht ganz nüchtern, blutend. Er war mit Galen in Streit geraten, und Galen hatte ihn mit einer Reitgerte oder etwas Ähnlichem ins Gesicht geschlagen. Gage bat Burrich, ihn wieder auf die Beine zu bringen, weil es schon spät sei und er an diesem Abend eigentlich keinen Ausgang gehabt hätte. Ich glaube, er war als
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