Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
darüber, wenn er in der Nähe ist, denk nicht einmal daran. Ich weiß nicht viel über die Gabe und wie sie wirkt, aber manchmal, oh, manchmal, wenn dein Vater mich damit berührte, schien es, daß er hinter meiner Stirn lesen konnte und Dinge sah, die ich vor mir selber verborgen hielt.«
Eine dunkle Blutwelle stieg Burrich ins Gesicht, und fast glaubte ich, Tränen in seinen dunklen Augen glitzern zu sehen. Er drehte sich auf dem Stuhl zur Seite, so daß er ins Feuer schaute, und ich ahnte, daß wir nun endlich zu dem kamen, was er wirklich sagen wollte. Es kostete ihn Mühe. Er mußte eine unterschwellige Furcht überwinden, die er sich selbst nicht eingestand, ein geringerer Mann, weniger hart zu sich selbst, hätte gezittert.
»... Angst um dich, Junge.« Seine Stimme war ein tiefes Grollen, die Worte kaum verständlich.
»Warum?« Eine kurze, einfache Frage löst die Zunge am besten, hatte Chade mich gelehrt.
»Ich weiß nicht, ob er den Makel der alten Macht in dir erkennen wird. Oder wenn ja, was er tut. Ich habe gehört ... nein, es ist so gewesen. Da war eine Frau, genaugenommen noch ein Mädchen. Sie verstand sich auf alles, was Federn hatte. Sie lebte in den Bergen westlich von hier, und man erzählte, sie könne einen wilden Falken vom Himmel zu sich rufen. Einige Leute verehrten sie dafür. Man brachte ihr krankes Federvieh oder rief sie, wenn die Hühner nicht legen wollten. Nur Gutes soll sie getan haben. Doch Galen sprach gegen sie. Sagte, sie sei ein widernatürliches Geschöpf, man dürfe nicht zulassen, daß sie noch weiteres Gezücht ihrer Art in die Welt setzte. Und eines Morgens fand man sie erschlagen.«
»Galen hat es getan?«
Burrich zuckte die Schultern. »Sein Pferd stand in jener Nacht nicht im Stall, soviel kann ich beschwören. Seine Hände waren grün und blau, und er hatte Kratzer im Gesicht und am Hals. Aber nicht Kratzer von den Fingernägeln einer Frau, sondern Krallenspuren, als hätte ein Falke sich auf ihn gestürzt.«
»Und du hast nichts gesagt?« fragte ich ungläubig.
Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Ein anderer kam mir zuvor. Galen wurde des Mordes beschuldigt, von dem Vetter des Mädchens, der zufällig hier in den Ställen arbeitete. Galen fand es unter seiner Würde zu leugnen. Sie gingen hinaus zu den Zeugensteinen, um dort einen Zweikampf auszutragen, im Namen Els, der an jenem Ort dem Wahrhaftigen den Sieg gewährt. Das Urteil, das dort gefällt wird, steht über der Gerichtsbarkeit des Königs und darf von niemandem angefochten werden. Der Junge starb. Jedermann sagte, das wäre Els Richterspruch gewesen, der Junge hätte Galen fälschlich beschuldigt. Galen antwortete, Els Richterspruch wäre gewesen, daß das Mädchen sterben solle, bevor es Kinder in die Welt setzen könne, und ihr verderbter Vetter ebenfalls.«
Burrich verstummte. Ich fühlte eine kalte Angst in mir aufsteigen. Eine Anschuldigung, über die bei den Zeugensteinen entschieden worden war, durfte nicht wieder erhoben werden. Das war mehr als Menschengesetz, das war der Wille der Götter. Ich bekam als Lehrer einen Mann, der ein Mörder war, einen Mann, der versuchen würde, mich zu töten, falls er den Verdacht schöpfte, daß ich die alte Macht besaß.
»Ja«, nickte Burrich, als hätte ich laut gedacht. »Fitz, mein Sohn, sei vorsichtig, sei klug.« Einen Moment lang war ich erstaunt, denn es hörte sich tatsächlich an, als hätte er Angst um mich, aber gleich fuhr er fort: »Mach mir keine Schande, Junge. Oder deinem Vater. Galen soll nicht sagen können, daß ich den Sohn meines Herrn als halbes Tier habe aufwachsen lassen. Beweise ihm, daß Chivalrics Blut rein in deinen Adern fließt.«
»Ich werde es versuchen«, antwortete ich kleinlaut. An diesem Abend legte ich mich angstvoll und niedergeschlagen zu Bett.
Der Königin Sommerfrische fand man nicht im Zwinger, in der Nähe des Frauenhags oder des Küchengartens, sie befand sich auf dem flachen Dach eines runden Turms. An der dem Meer zugewandten Seite boten hohe Umfassungsmauern Schutz vor feindlichen Angriffen und vor dem rauhen Wind. Zum Burghof hin zogen sich an einer niedrigeren Brustwehr steinerne Sitzbänke entlang. Die Luft dort oben war still, als hätte mir jemand die Hände über die Ohren gelegt. Eine wilde Trostlosigkeit ging von diesem auf Stein gegründeten Garten aus. Es gab marmorne Becken, ehemals vielleicht Vogelbäder oder künstliche Tümpel für Seerosen; zwischen Kübeln, Töpfen und Trögen
Weitere Kostenlose Bücher