Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
träumten verwitterte Statuen auf ihren Sockeln. Früher mochte dieser Ort eine üppige grüne Oase gewesen sein, doch geblieben waren von der einstigen Pracht nur ein paar dürre Stiele und die bemooste Erde in den Behältern. Das Gerippe einer Kletterpflanze klammerte sich an ein halb verrottetes Spalier. Der Anblick erfüllte mich mit einer dumpfen Traurigkeit, lähmender noch als der erste Hauch der Winterkälte, der mich frösteln machte. Philia müßte das sehen, dachte ich. Sie würde das Leben in diese Wüstenei zurückbringen.
Ich war als erster eingetroffen. August kam bald nach mir. Er hatte Veritas' untersetzte Statur, wie ich Chivalrics schlankeren Körperbau und die dunklen Farben der Weitseher. Wie immer war er höflich, aber distanziert. Er begrüßte mich mit einem Kopfnicken und spazierte dann an den Statuen entlang.
Nach ihm stellten sich in rascher Folge die übrigen ›Auserwählten‹ ein, zu meiner Überraschung mehr als ein Dutzend. Abgesehen von August, dem Schwestersohn des Königs, konnte keiner sich rühmen, so viel Weitseherblut zu haben wie ich – Vettern und Basen ersten und zweiten Grades und verschiedener Altersstufen. August war vermutlich der Junior, zwei Jahre jünger als ich, und Serene, eine Frau Mitte Zwanzig, wahrscheinlich die älteste. Wir alle fühlten uns seltsam befangen. Einige standen beisammen und unterhielten sich halblaut, andere schlenderten umher, stocherten in den leeren Blumenkübeln oder betrachteten die Standbilder.
Dann kam Galen.
Er ließ die Tür zur Treppe hinter sich zufallen. Die meisten von uns zuckten zusammen. Wir standen uns gegenüber, der Lehrer und seine Schüler, und musterten uns schweigend.
Meines Erachtens lassen sich dünne Männer in verschiedene Kategorien einteilen. Manche, wie Chade, sind so beschäftigt mit dem Abenteuer Leben, daß sie entweder ganz vergessen, etwas zu sich zu nehmen, oder jeden Bissen Nahrung sofort im Feuer ihrer leidenschaftlichen Begeisterung verbrennen. Doch es gibt noch einen zweiten Typus, ausgemergelt, mit eingesunkenen Wangen und spitzen Knochen, und man spürt, weil ihm die ganze Welt ein Greuel ist, widersteht ihm jedes Quentchen, das er von ihrem unreinen Stoff in sich aufnehmen muß. Ich wäre bereit gewesen zu schwören, daß Galen nie in seinem ganzen Leben mit Genuß eine Mahlzeit verzehrt hat.
Seine Kleidung verwirrte mich. Alles, was er trug, war vom Besten, pelzverbrämt, das Wams dicht an dicht mit Bernsteinperlen besetzt, ein Brustpanzer, der einen Schwertstoß abgewendet hätte. Aber die kostbaren Stoffe spannten sich über seinem Körper, als hätte der Schneider zu sparsam gemessen. In einer Zeit, da großzügig gebauschte Ärmel mit farbigen Einsätzen das Merkmal des wohlhabenden Mannes waren, saß ihm sein Hemd wie eine zweite Haut. Seine Stiefel waren kniehoch, mit engem Schaft, und er trug eine kleine Gerte in der Hand, als käme er geradeswegs von einem Ausritt. Sein Anzug wirkte unbequem und vermittelte zusammen mit der hageren Gestalt einen Eindruck von Geiz. Der Blick seiner fahlen Augen wanderte leidenschaftslos über die Terrasse, uns hatte er nach einem kalten Blick als unzulänglich abgetan. Nach einer Weile stieß er die Luft durch die Nase wie ein Mann, der sich einer unangenehmen Pflicht gegenübersieht. »Schafft Platz«, ordnete er an. »Räumt diesen ganzen Ramsch zur Seite. Alles auf einen Haufen. Schnell, schnell. Ich habe keine Geduld mit Faulpelzen.«
Und so wurden die letzten Reste des Gartens zerstört, die Spuren der liebevoll angelegten Pfade und Lauben hinweggefegt. Die Behälter stapelten wir an der Mauer, die zierlichen Statuen obenauf. Galen richtete nur einmal das Wort an mich. »Nicht so saumselig, Bastard«, befahl er, als ich mich mit einem schweren Kübel abschleppte, und zog mir die Reitgerte über die Schultern. Es tat nicht weh, aber die grundlose Züchtigung kam mir berechnet vor. Deshalb blieb ich stehen und schaute ihn an. »Hast du mich nicht verstanden?« fragte er. Ich nickte und stemmte mich wieder gegen das Gewicht des Kübels. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich den seltsamen Ausdruck der Befriedigung in seinem Gesicht. Der Peitschenhieb war anscheinend eine Prüfung gewesen. Hatte ich sie bestanden, oder hatte ich versagt?
Das Turmdach war zu einer kahlen Fläche geworden. Nur grüne Moosadern und alte Erdrinnsale deuteten auf den Garten hin, in dem einst an schönen Tagen die edlen Damen und Herren gewandelt waren. Auf Galens Befehl nahmen wir
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