Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
witterte und sich fragte, wer ich sein mochte. Gerade als ich aufatmen wollte, fiel mir ein, daß bei früheren Begegnungen die Entfremdeten sich mit diesem Sinn nicht hatten entdecken lassen.
Ohne lange nachzudenken, ging ich ein Stück den Abhang hinunter zu einer Gruppe von Felsblöcken und ließ mich in ihrem Schutz nieder, nicht wegen des kalten Windes, denn es lag eine Ahnung von Frühling in der Luft, sondern ich wollte etwas Festes im Rücken haben. Oben auf der Hügelkuppe hatte ich mich zu angreifbar gefühlt. Nun hieß es, ruhig Blut bewahren und die nächsten Schritte zu überlegen. Galen hatte uns empfohlen, an unserem Standort zu bleiben, zu meditieren und mit offenen Sinnen zu lauschen. Innerhalb einer Spanne von zwei Tagen wollte er dann Kontakt zu uns aufnehmen.
Nichts wirkt deprimierender, als zu wissen, daß einem eine Niederlage bevorsteht. Ich bezweifelte, daß Galen ernsthaft vorhatte, sich mit mir in Verbindung zu setzen, oder falls doch, daß ich seine Nachricht empfangen konnte. Ebensowenig glaubte ich, daß der Ort, den er sich für mich ausgesucht hatte, sicher war. Kurzerhand stand ich auf, hielt noch einmal Umschau, ob jemand mich beobachtete, und marschierte dann in Richtung der Meeresbrise. Wenn ich mich befand, wo ich glaubte, mich zu befinden, mußte es vom Ufer aus möglich sein, die Geweih- oder sogar die Linneninsel zu sehen. Schon eine von beiden reichte mir aus, um meine Position zu bestimmen.
Beim Gehen redete ich mir ein, daß ich nur feststellen wollte, wie weit der Rückweg nach Bocksburg war, der mir bevorstand. Nur ein Dummkopf rechnete noch mit Entfremdeten in dieser Gegend. Bestimmt hatte der Winter ihnen den Garaus gemacht, oder aber sie waren zu ausgehungert und schwach, um eine Gefahr darzustellen. Den Geschichten, daß sie sich zu Banden von Halsabschneidern und Straßenräubern zusammenrotteten, schenkte ich keinen Glauben. Ich hatte keine Angst. Ich wollte mich nur überzeugen, wo ich war. Falls Galen kein falsches Spiel mit mir treiben wollte, durfte das Wo keine Rolle spielen. Unzählige Male hatte er uns versichert, daß es die Person war, zu der man ›dachte‹, nicht der Ort. Er konnte mich am Strand ebenso leicht finden wie auf dem Hügel.
Am späten Nachmittag stand ich oben auf verwitterten Klippen und schaute übers Meer. Die Geweihinsel und dahinter ein verschwommener Fleck – Linnen. Ich befand mich nördlich von Ingot. Die Küstenstraße nach Hause führte geradewegs durch die Ruinen der zerstörten Stadt. Kein sehr angenehmer Gedanke.
Und was nun?
Am Abend war ich wieder auf meinem Berg und kauerte zwischen den Felsen. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß dieser Platz sich ebensogut zum Warten eignete wie jeder andere. Trotz meiner Zweifel würde ich ausharren, wo man mich zurückgelassen hatte, bis die ausgemachte Zeitspanne verstrichen war. Mein Abendessen bestand aus Brot und Trockenfisch, dazu trank ich sparsam von meinem Wasservorrat. Zu meiner Ausrüstung gehörte auch ein zweiter Umhang. Dankbar wickelte ich mich hinein und versagte mir eisern den Gedanken an ein wärmendes Feuer. Für jeden auf dem Karrenweg am Fuß des Hügels wäre es ein Fanal.
Vermutlich gibt es kaum etwas, das schwerer zu ertragen ist als dauernde Nervenanspannung. Ich versuchte, zu meditieren, mich Galens Gabe zu öffnen, während ich vor Kälte zitterte und mir nicht eingestehen wollte, daß ich Angst hatte. Das Kind in mir sah unheimliche, zerlumpte Gestalten lautlos von allen Seiten heranschleichen, Entfremdete, die mich für den Umhang und das bißchen Proviant totschlagen würden. Auf dem Rückweg von der Küste hatte ich mir einen Stock geschnitten, den ich jetzt mit beiden Händen umklammerte, doch er kam mir bedrückend unzulänglich vor. Hin und wieder sank mir trotz allem das Kinn auf die Brust, aber meine Träume quälten mich mit Bildern von Galen, der höhnisch zuschaute, wie die Entfremdeten mich einkreisten. Jedesmal fuhr ich hoch und fürchtete, der Alptraum könnte Wirklichkeit sein.
Ich beobachtete den Sonnenaufgang zwischen den Bäumen hindurch und verbrachte die nächsten Stunden in einem unruhigen Halbschlaf. Der Nachmittag bescherte mir eine Art resignierten Frieden. Ich vertrieb mir die Zeit damit, nach dem Getier in meiner Umgebung zu spüren. Mäuse und Singvögel waren nur winzige Funken Hunger in meinem Bewußtsein und Kaninchen wenig mehr, aber ein Fuchs trug sich ernsthaft mit Hochzeitsgedanken, und weiter entfernt fegte ein Rehbock
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