Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
einige Mahlzeiten und Nächte vergehen würden, bis er mich wiedersah. Er wedelte und zappelte und winselte, ich solle ihn mitnehmen, ich würde ihn brauchen. Weil er inzwischen zu groß war, ihn aufzuheben und an die Brust zu drücken, setzte ich mich ins Stroh, er kam auf meinen Schoß, und ich legte die Arme um ihn. Er fühlte sich so warm und fest an, so nahe und wirklich. Einen Moment lang glaubte ich, daß er recht hatte, daß ich ihn brauchen würde, damit er mir half, den Schmerz des Versagens zu ertragen. Doch ich machte mir bewußt, daß er hier sein und auf mich warten würde, wenn ich zurückkam, und ich versprach ihm, anschließend ein paar Tage nur für ihn da zu sein. Wir würden einen langen Jagdausflug unternehmen, wofür wir bisher nie Zeit gehabt hatten. Jetzt, bettelte er, bald, vertröstete ich ihn. Dann ging ich zum Palas, um mein Bündel zu schnüren und etwas Proviant einzupacken.
Der nächste Morgen zeichnete sich durch viel Pomp und Pathos aus, ein überflüssiges Theater, meiner Meinung nach. Meine Gefährten machten einen euphorischen Eindruck. Ich war der einzige, der beim Anblick der stampfenden Pferde und der acht geschlossenen Sänften nicht regelrecht in Verzückung geriet. Vor den paar Dutzend Zuschauern mußten wir in einer Reihe Aufstellung nehmen, und Galen verband uns die Augen. Bei den meisten Umstehenden handelte es sich um Verwandte der Schüler oder um Freunde, aber natürlich waren auch die Klatschbasen der Burg anwesend. Galen hielt uns eine kurze Rede, vorgeblich an uns gerichtet, doch er wiederholte nur, was wir bereits wußten: Man würde uns zu verschiedenen Orten bringen und dort allein lassen; daß wir zusammenarbeiten mußten, von der Gabe Gebrauch machen, um zur Burg zurückzugelangen; daß uns bei Erfolg die Ehre zuteil werden würde, als Kordiale dem König zu dienen, eine Waffe im Kampf gegen die Roten Korsaren. Letzteres verfehlte nicht seine Wirkung auf das Publikum. Raunen und Gemurmel folgten mir, als man mich zur Sänfte geleitete und hineinsetzte.
Es folgten scheußliche anderthalb Tage. Die Sänfte schwankte, und ohne einen frischen Lufthauch, ohne Ablenkung durch ein wechselndes Panorama wurde mir bald übel davon. Der Mann, der die Pferde führte, war zum Schweigen verpflichtet worden und hielt sein Wort. In der Nacht legten wir eine kurze Rast ein. Ich bekam eine karge Mahlzeit aus Brot und Käse und Wasser, dann wurde ich wieder in die Sänfte verfrachtet und mußte das infame Geschaukel erdulden.
Gegen Mittag des folgenden Tages machten wir halt. Mein Begleiter half mir auszusteigen. Kein Wort wurde gesprochen, und ich stand mit schmerzenden Gliedern, Kopfweh und verbundenen Augen im Irgendwo. Ein heftiger Wind zerrte an meinen Kleidern und Haaren. Hufschlag bestärkte mich in der Vermutung, daß ich meinen Bestimmungsort erreicht hatte, und ich machte mich daran, die Augenbinde abzunehmen. Galen hatte einen festen Knoten gebunden, und es dauerte einen Moment, mich von dem Tuch zu befreien. Ich befand mich auf einer grasbewachsenen Hügelflanke. Mein Führer hielt auf einen Karrenweg zu, der um den Fuß des Hügels herumführte, und entfernte sich rasch. Der Wind strich raschelnd durch das hohe Gras, noch wintergelb, aber dicht über dem Boden bereits grün. Ringsum weitere Erhebungen, die Grasnarbe an den Flanken durchbrochen von felsigen Auswüchsen und mit bewaldetem Fuß. Ich ließ den Blick wandern, um mich zu orientieren. Es war hügeliges Gebiet, aber aus östlicher Richtung wehte der Geruch von Meer und Ebbe heran. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, schon einmal in dieser Gegend gewesen zu sein, nicht genau an diesem Punkt, aber die Landschaft wirkte irgendwie vertraut. Dann entdeckte ich im Westen den Wächter. Unverkennbar der tief gekerbte Doppelgipfel. Vor weniger als einem Jahr hatte ich für Fedwren die Kopie einer Landkarte angefertigt, und der ursprüngliche Kartograph hatte sich die markante Silhouette des Wächters als Motiv für die Randverzierung ausgesucht. Nun gut. Dort das Meer, dort der Wächter, und mein Magen krampfte sich zusammen, als mir klar wurde, wo man mich abgesetzt hatte – ganz in der Nähe von Ingot.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mich hastig um die eigene Achse drehte, um die Hügel, die Wälder und die Straße abzusuchen. Keine Spur von einem lebenden Wesen. Mit wild schlagendem Herzen spürte ich nach außen, fand aber nur Vögel und Kleingetier und einen Rehbock, der verwundert den Kopf hob und
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