Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Seele.
Licht. Licht und Blumen und Farben im Überfluß. In einer Ecke ein Webstuhl, daneben Körbe mit feinen, leuchtendbunten Garnen. Die Decke auf dem Bett und die Vorhänge an den offenen Fenster muteten fremdländisch an, in geometrischen Mustern gewebt, die stilisierte Lilienfelder unter einem blauen Himmel darzustellen schienen. In einer großen, wassergefüllten Keramikschale schwammen Blüten, ein kleiner Salmling huschte zwischen den Stengeln umher und als unsteter Schatten über die bunten Kiesel, die den Boden des Gefäßes bedeckten. Ich versuchte mir den bleichen, zynischen Narren inmitten dieser schwerelosen Harmonie vorzustellen, dabei trat ich weiter ins Zimmer und entdeckte etwas, das mir das Herz im Leibe umdrehte.
Ein Säugling. Dafür hielt ich es zuerst, und bevor ich wußte, was ich tat, war ich mit zwei Schritten neben dem Körbchen, in dem er lag, und kniete nieder. Doch es war kein lebendiges Kind, sondern eine Puppe, aber so lebensecht, daß ich fast erwartete zu sehen, wie die zarte Brust sich atmend hob und senkte. Ich streckte die Hand zu dem blassen, anmutigen Gesichtchen aus, wagte aber nicht, es zu berühren. Die Wölbung der Stirn, die geschlossenen Lider, der rosige Schimmer der runden Wangen, sogar die winzige Hand, die auf dem Zudeck ruhte, waren vollkommener, als ich es je bei einem künstlich geschaffenen Gegenstand für möglich gehalten hätte. Wer verstand sich wohl darauf, dieses seidenglatte Porzellan herzustellen, und wessen Hand hatte die hauchfeinen Wimpern auf die Wangen gemalt? Die Zierdecke war über und über mit Stiefmütterchen bestickt, das Kissen aus Satin genäht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort kniete, als wäre es tatsächlich ein schlummerndes Kind. Doch endlich stand ich auf, ging rückwärts aus dem Zimmer und schloß leise die Tür hinter mir. Langsam stieg ich die unendlich vielen Stufen hinunter, voller Angst, ich könnte dem Narren begegnen, und bedrückt von dem Wissen, daß ich einen Bewohner der Burg gefunden hatte, der mindestens so einsam war wie ich.
Chade rief mich in dieser Nacht, doch offenbar nur, um Gesellschaft zu haben. Wir saßen, fast ohne ein Wort zu wechseln, vor dem schwarzen Kamin, und ich dachte bei mir, daß er älter aussah als je zuvor. Wie Veritas von der Gabe verzehrt wurde, schwand Chade allmählich dahin. Seine knochigen Hände waren beinahe fleischlos, das Weiß seiner Augen von einem Netz roter Adern durchzogen. Er benötigte Schlaf, hatte mich aber zu sich gerufen. Jetzt saß er stumm da und stocherte nur in den Speisen, die er für uns hingestellt hatte. Zuletzt beschloß ich, ihm zu helfen.
»Hast du Angst, daß ich es nicht fertigbringe?« fragte ich halblaut.
»Daß du was nicht fertigbringst?«
»Den Bergprinzen zu töten. Rurisk.«
Chade drehte sich herum und sah mir ins Gesicht. Lange. Ohne zu sprechen.
»Du wußtest nicht, daß König Listenreich mir diesen Auftrag gegeben hat.«
Mir versagte die Stimme.
Langsam wandte er sich wieder dem leeren Kamin zu und studierte ihn sorgfältig, als gäbe es Flammen, in denen man lesen konnte. »Ich bin nur der Werkzeugmacher«, sagte er nach einer Weile. »Ein anderer benutzt, was ich geschaffen habe.«
»Glaubst du, ich sollte es nicht tun? Ist es falsch?« Ich holte tief Luft. »Nach allem, was ich weiß, hat er ohnehin nicht mehr lange zu leben. Vielleicht ist es sogar eine Gnade, wenn er im Schlaf stirbt, statt ...«
Chade schüttelte den Kopf. »Versuche nie, dir einzureden, wir wären etwas anderes, als was wir sind. Mörder aus dem Hinterhalt. Nicht erbarmungsvolle Sendboten eines weisen Königs. Politische Meuchelmörder, die zum Vorteil unserer Monarchie töten. Das sind wir.«
Auch ich schaute jetzt in die imaginären Flammen. »Du machst es mir sehr schwer. Schwerer, als es ohnehin schon war. Warum? Weshalb hast du mich zu dem gemacht, was ich bin, um mir dann Gewissensbisse einzureden ...?« Ich ließ die Frage in der Luft hängen.
»Ich glaube – ach, nicht so wichtig. Vielleicht ist es nur eine Art Eifersucht. Wahrscheinlich frage ich mich, aus welchem Grund Listenreich dich beauftragt, statt meiner. Vielleicht habe ich Angst, daß er glaubt, mich nicht mehr zu brauchen. Vielleicht wünsche ich mir, nachdem ich dich kenne, ich hätte nie aus dir gemacht, was ...« Diesmal war es Chade, der verstummte und schweigend den Gedanken nachhing, die er nicht aussprechen konnte.
Wir grübelten beide über meinen Auftrag nach. Es ging nicht darum, der
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