Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
schneidest du dir ins eigene Fleisch.«
»Dann vielleicht ...«
»Ja, und vielleicht ist da gerade jetzt ein Korsarenschiff, nicht mehr weit von der Küste von Shoaks, und schon lacht der Kapitän über den bösen Traum der vergangenen Nacht, und der Steuermann berichtigt den Kurs und rätselt, wie er sich so hat täuschen können. Die ganze Arbeit, die ich geleistet habe, während Ihr schlieft und Edel mit seinen Schranzen tanzte und trank, wird zunichte, weil ich nicht an meinem Platz bin. Vater, es sei Euch überlassen, Absprachen zu treffen und einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiß auszuhandeln, solange ich nur nicht gezwungen bin, Bocksburg zu verlassen, während das Wetter unseren Feinden günstig ist.« Das Krachen der ins Schloß fallenden Tür übertönte fast seine letzten Worte.
Listenreich starrte einige Atemzüge lang schweigend zu Boden, dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen. Doch ob er eine Anwandlung von Müßigkeit wegwischen wollte, heimliche Tränen oder nur ein Staubkorn – wer weiß. Er schaute sich im Zimmer um und runzelte bei meinem Anblick verwundert die Stirn wie über einen unerklärlich aufgetauchten Fremdkörper. Dann schien er sich zu besinnen, wer ich war, und bemerkte ironisch: »Nun, das wäre gutgegangen, nicht wahr? Wie auch immer, wir müssen einen Ausweg finden. Und wenn Veritas aufbricht, um seine Braut heimzuholen, wirst du ihn begleiten.«
»Falls es Euer Wunsch ist, Majestät.«
»Es ist mein Wunsch.« Er hüstelte und richtete den Blick wieder aus dem Fenster. »Die Prinzessin hat noch einen älteren Bruder. Prinz Rurisk ist nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Oh, früher war er ausdauernd und stark, doch auf den Eisfeldern wurde er von einem Pfeil getroffen, der seinen Oberkörper durchbohrte, hat man Edel erzählt. Die Wunden an Brust und Rücken sind geheilt, doch im Winter hustet er Blut, und im Sommer kann er höchstens einen halben Vormittag im Sattel sitzen oder mit seinen Männern fechten. Wenn man das Bergvolk kennt, nimmt es Wunder, daß man ihn als König-zur-Rechten duldet.«
Ich überlegte. »Das Bergvolk hat den gleichen Brauch wie wir. Sohn oder Tochter, die Reihenfolge der Geburt ist maßgebend.«
»Ja. Genauso ist es«, sagte Listenreich bedeutungsvoll, und ich wußte, er dachte bereits darüber nach, daß sieben Provinzen eine größere Macht darstellten als sechs.
»Und Prinzessin Kettrickens Vater«, erkundigte ich mich, »wie ist es um seine Gesundheit bestellt?«
»Ausgezeichnet für einen Mann seines Alters. Ich bin überzeugt, er wird noch weitere zehn Jahre als gerechter und weiser Herrscher auf dem Thron sitzen und seinem Erben ein geordnetes, einiges Reich übergeben.«
»Womöglich ist es uns bis dahin gelungen, der Roten Korsaren Herr zu werden. Veritas hätte Muße, seine Gedanken anderen Dingen zuzuwenden.«
»Wahrscheinlich.« Listenreich hielt meinen Blick fest. »Wenn Veritas aufbricht, um seine Braut zu holen, wirst du ihn begleiten. Du verstehst, was ich von dir erwarte? Ich vertraue auf deine Diskretion.«
Ich neigte den Kopf. »Wie Ihr wünscht, mein König.«
Kapitel 19
Die Reise
Von dem Königreich der Berge als einem Königreich zu sprechen begünstigt eine vollkommen irrige Vorstellung von Land und Leuten. Auch der Name Chyurda wäre unrichtig, obwohl die Chyurda der dominierende Bevölkerungsteil sind. Einsame Weiler, die wie Vogelnester an den steilen Hängen kleben, kleine, fruchtbare Täler, Handelsposten an den holprigen Paßstraßen und Clans umherziehender Hirten und Jäger, die auf ihren traditionellen Pfaden die unwirtliche Gebirgswelt durchwandern – sie alle bilden das Gefüge des Reiches, unterschiedliche Gruppen, deren Interessen sich oft zuwiderlaufen. In höchstem Maße erstaunlich deshalb, daß stärker noch als das Beharren auf Unabhängigkeit und Individualität die Ergebenheit ist, die sie dem ›König‹ ihres Landes entgegenbringen.
Begründerin dieses Geschlechts war eine Prophetin und Richterin, eine Frau, die sich nicht allein durch ihre Weisheit auszeichnete, sondern auf der Grundlage der Philosophie eine Maxime entwickelte, wonach der Herrscher eines Volkes dessen vornehmster Diener sein sollte und in dieser Eigenschaft vollkommen selbstlos. Wann aus den Richtern Könige wurden, läßt sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen, vielmehr war es ein allmählicher Übergang, je weiter die Kunde von dem gerechten Sinn und der Weisheit der Heiligen zu
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