Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
dunklem Holz, und in den Deckel war ein Hirsch geschnitzt. Als sie es aufklappte, konnte ich den aromatischen Duft des Holzes riechen. Sie nahm einen Ohrstecker heraus und hielt ihn mir prüfend an. »Zu klein«, murmelte sie. »Was hat das Tragen von Schmuck für einen Sinn, wenn keiner ihn sieht?« Mit ähnlichen Kommentaren probierte und verwarf sie noch einige andere. Endlich brachte sie einen zum Vorschein, der aussah wie ein silbernes Netz und mit einem blauen Stein darin. Sie betrachtete ihn zweifelnd, dann nickte sie widerstrebend. »Der Mann hat Geschmack. Was ihm auch sonst fehlen mag, er hat Geschmack.« Sie hielt mir den Schmuck noch einmal an und stach mir dann ohne jede Vorwarnung den Dorn durchs Ohrläppchen.
Ich stieß einen Schrei aus und hob die Hand zum Kopf, aber sie schlug sie weg. »Sei nicht so zimperlich. Es zwickt nur ein bißchen.«
Erbarmungslos bog sie mein Ohrläppchen zwischen den Fingern, um von hinten eine Art Klemme auf den Dorn zu schieben. »Fertig. Das steht ihm, findest du nicht, Lacey?«
»Sehr schön«, stimmte Lacey zwischen zwei Bürstenstrichen zu.
Mit einer königlichen Handbewegung war ich entlassen. Als ich aufstand, um zu gehen, sagte sie: »Vergiß nicht, Fitz – ob du ›denken‹ kannst oder nicht, ob du seinen Namen trägst oder nicht, du bist Chivalrics Sohn. Sieh zu, daß du dich ehrenhaft beträgst. Nun geh, und schlaf gut.«
»Mit diesem Ohr?« fragte ich und zeigte ihr das Blut an meinen Fingerspitzen.
»Daran habe ich nicht gedacht. Es tut mir leid ...«, begann sie, aber ich fiel ihr ins Wort.
»Zu spät für Entschuldigungen. Vergeben und vergessen. Und ich danke recht schön.« Lacey kicherte immer noch, als ich die Tür hinter mir zumachte.
Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen und sich in die Hochzeitskarawane einreihen. Der neue Bund zwischen den Königshäusern mußte mit reichen Geschenken besiegelt werden. Eine edle Vollblutstute, Geschmeide, kostbare Tuche, Diener und seltene Duftessenzen für die Braut. Pferde und Falken und Gold für ihren Vater und ihren Bruder, selbstverständlich. Aber die wichtigsten Gaben waren die zum Nutzen des gesamten Königreichs, denn gemäß den Traditionen von Jhaampe gehörte die Prinzessin in erster Linie ihrem Volk und dann ihrer Familie. Dementsprechend umfaßten die Geschenke Zuchtvieh, Rinder, Schafe, Pferde und Geflügel sowie starke Bogen aus Eibenholz, wie man sie in den Bergen nicht hatte, und Werkzeug zur Metallbearbeitung aus gutem Eisen, außerdem andere Gerätschaften, von denen man vermutete, daß sie geeignet waren, dem Bergvolk das Leben zu erleichtern. Wir brachten ihnen auch Wissen, nämlich einige von Fedwrens herrlich illustrierten Pflanzenbüchern, Beschreibungen von Heilmethoden und eine Schriftrolle über die Kunst, mit Vögeln zu jagen, eine Abschrift des berühmten Textes von Meister Falkner selbst. Diese Schätze waren mir anvertraut und vorgeblich der Grund, weshalb ich in der Karawane mitreiste. Dazu kam ein großzügiger Vorrat an Kräutern und Wurzeln, die in den Pflanzenbüchern erwähnt wurden, und Samen für alles, was sich nicht über einen längeren Zeitraum aufbewahren ließ, ohne zu verderben oder an Qualität einzubüßen. Es war nicht das geringste der Geschenke, und ich nahm diese Verantwortung nicht weniger ernst als meine andere Mission. Alles war gut verstaut in einem Kasten aus geschnitztem Zedernholz. Ich überprüfte in meinem Zimmer ein letztes Mal die Verpackung der einzelnen Teile, als ich den Narren hinter mir hörte.
Ich drehte mich herum und sah ihn im Türrahmen stehen. Er hielt mir einen Lederbeutel hin. »Was ist das?« fragte ich, um einen unbefangenen Tonfall bemüht, damit er nicht das schlechte Gewissen wegen der Blumen und der Puppe aus meiner Stimme heraushörte.
»Meerbitter.«
Ich hob die Augenbrauen. »Ein Abführmittel? Als Hochzeitsgeschenk? Manch einer mag es passend finden, aber ich habe hier Kräuter, die in den Bergen gezogen werden können, und ich glaube nicht ...«
»Es ist kein Hochzeitsgeschenk. Es ist für dich.«
Ich nahm den Beutel mit gemischten Gefühlen. Meerbitter war ein besonders starkes Purgativum. »Vielen Dank, daß du an mich gedacht hast, aber ich leide auf Reisen gewöhnlich nicht unter Unpäßlichkeiten und ...«
»Du schwebst gewöhnlich auch nicht in Gefahr, vergiftet zu werden.«
»Gibt es etwas, das du mir sagen willst?« Es sollte heiter und scherzhaft klingen. Ich vermißte die spöttische Miene des
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