Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
nicht sterben, bevor die Feierlichkeiten in Bocksburg stattgefunden hatten und die Ehe unwiderruflich vollzogen war, weil das als schlechtes Omen für die Jungvermählten gedeutet werden konnte. Diesen Tod zu arrangieren erforderte einiges Kopfzerbrechen.
Manchmal fragte ich mich, weshalb diese Aufgabe mir und nicht Chade übertragen worden war. Sollte es eine Art Bewährungsprobe sein, und wenn ich sie nicht bestand, bezahlte ich mit meinem Leben? War Chade zu alt für diesen schwierigen Auftrag oder zu wertvoll, um in Gefahr zu geraten? Brauchte man ihn zu dringend, um Veritas bei Kräften zu halten? Und sobald es mir gelang, diese Gedanken beiseite zu schieben, fing ich an, darüber nachzugrübeln, ob ich ein Pulver nehmen sollte, das Rurisks angegriffene Lungen reizte, so daß er sich zu Tode hustete? Ich konnte sein Kissen und sein Bettzeug damit behandeln. Oder sollte ich ihm ein Linderungsmittel anbieten, das ihn langsam süchtig machte und schließlich in einen gnädigen Todesschlaf versetzte? Ich hatte ein Hämagogum dabei. Falls er bereits Blut hustete, mochte diese Methode angebracht sein. Dann gab es da ein Gift, rasch wirkend, unbedingt tödlich und geschmacklos wie Wasser, wenn man nur garantieren könnte, daß er es nicht zu früh einnahm. Von Rechts wegen hätten mich diese unerfreulichen Überlegungen ganze Nächte wachhalten müssen, aber die frische Luft und die Anstrengung eines ganzen Tages im Sattel genügten meist als natürliches Schlafmittel, und oft erwachte ich voller Vorfreude auf eine neue Etappe der Reise.
Als wir endlich den Blauen See sichteten, tauchte er wie ein Wunder in der Ferne auf. Fast seit ich denken konnte, lebte ich nun in Sichtweite des Ozeans, und ich merkte überrascht, wie sehr ich den Anblick von Wasser vermißt hatte. Jedes Tier in unserer Karawane erfüllte mein Bewußtsein mit der Witterung von frischem, klarem Naß. Die Gegend wurde grüner und freundlicher, je näher wir dem großen See kamen, und wir mußten die Pferde daran hindern, sich an dem fetten Gras zu überfressen.
Ganze Flotten von Segelbooten besorgten den Handel auf dem Blauen See; ihre farbenfrohen Segel verkündeten nicht nur, welche Waren sie an Bord hatten, sondern auch, für welche Familie sie fuhren. Die Siedlungen am Ufer waren auf Pfählen ins Wasser hinausgebaut. Wir wurden freundlich aufgenommen und mit Süßwasserfisch bewirtet, der für meinen an Meeresgetier gewöhnten Gaumen eigenartig schmeckte. Ich fühlte mich ganz wie der erfahrene Reisende, und Flink und ich hielten uns für die Allergrößten, als eines Abends die grünäugigen Töchter einer Kornhändlerfamilie an unser Feuer kamen. Sie brachten kleine, buntbemalte Trommeln mit, jede anders gestimmt, und sie spielten und sangen für uns, bis ihre Mütter kamen und sie schimpfend mit nach Hause nahmen. Es war ein aufregendes Erlebnis, und in der Nacht dachte ich kein einziges Mal an Prinz Rurisk.
In nordwestlicher Richtung ging es weiter. Den blauen See überquerten wir auf flachbödigen Schiffen, zu denen ich nicht das geringste Vertrauen hatte. Am anderen Ufer fanden wir uns plötzlich in einem Waldgebiet wieder, und die Tage unter der brennenden Sonne Farrows verblaßten zu einer sehnsüchtigen Erinnerung. Unser Weg führte durch einen imposanten Zedernwald, durchmischt mit weißen Birken, Erlen und Weiden. Der Hufschlag unserer Pferde klang dumpf auf der schwarzen, feuchten Erde, und es roch süß nach Herbst. Wir sahen Vögel, die wir nicht kannten, und einmal erhaschte ich einen Blick auf einen großen Hirsch von einer Farbe und Art, wie ich seither keinen mehr zu Gesicht bekommen habe. Die Nachtweide für die Pferde war nicht gut, aber wir hatten vorsorglich bei den Leuten am See Körnerfutter eingekauft. Abends zündeten wir Feuer an, und Flink und ich teilten uns ein Zelt.
Es ging stetig bergauf. Der Pfad mied die steilsten Hänge, aber wir gelangten unverkennbar höher hinauf ins Gebirge. Eines Nachmittags begegneten wir einer Abordnung aus Jhaampe, die man uns zur Begrüßung entgegengeschickt hatte und uns als Führer dienen sollte. Danach schien die Reise schneller vonstatten zu gehen, und jeden Abend unterhielten uns Musikanten, Dichter und Akrobaten, und man bewirtete uns mit den Delikatessen des Bergvolkes. Jede Anstrengung wurde unternommen, um uns ein Willkommen zu bereiten und zu ehren. Doch ich fand diese Menschen überaus seltsam und fast unheimlich in ihrer Andersartigkeit. Oft war ich gezwungen, mich
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