Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
von dem Angebot Gebrauch zu machen, doch ich empfand es als Demütigung, mich in die Stadt tragen zu lassen. Andererseits wollte ich nicht unhöflich sein und ihre drängenden Aufforderungen einfach ignorieren, deshalb übergab ich meinen Kasten einem Jungen, der vielleicht halb so alt war wie ich, und stieg in eine Sänfte, die von Frauen getragen wurde, die meine Großmütter hätten sein können. Mir wurde heiß vor Scham, als ich merkte, wie die Passanten uns merkwürdig nachschauten und die Köpfe zusammensteckten, wenn wir vorübergetragen wurden. Ich sah nur wenige andere Sänften und darin alte oder kranke Menschen, denen dieses Transportmittel offensichtlich vorbehalten war. Nur gut, daß Veritas nicht ahnte, wie wenig vielversprechend unser Besuch in der Heimat seiner zukünftigen Königin sich anließ. Ich bemühte mich, gute Miene zu machen, nickte den Leuten am Straßenrand freundlich zu und versuchte, mein Entzücken über ihre Gärten und anmutigen Gebäude auf meinem Gesicht deutlich werden zu lassen.
Es muß mir gelungen sein, denn bald bewegte meine Sänfte sich langsamer, damit ich mehr Zeit zum Schauen hatte, und die Trägerinnen fingen an, mich auf dieses oder jenes aufmerksam zu machen. Sie sprachen Chyurda zu mir und freuten sich, als sie merkten, daß ich mich notdürftig verständigen konnte. Chade hatte mir das Wenige beigebracht, das er selber wußte, mich aber nicht auf die Musikalität dieser Sprache vorbereitet, und ich merkte bald, daß es auf den Tonfall ebenso ankam wie auf die Aussprache der Worte. Zum Glück hatte ich ein gutes Ohr für Sprachen, deshalb stürzte ich mich mannhaft in eine Unterhaltung mit meinen Trägerinnen, damit ich mich später im Palast nicht mehr ganz so anhörte wie ein radebrechender Fremdländer. Eine der Frauen übernahm es, mir zu erklären, was es zu sehen gab. Jonqui war ihr Name, und als ich ihr sagte, ich hieße FitzChivalric, wiederholte sie es mehrere Male, wie um sich meinen Namen einzuprägen.
Bei einem bestimmten Garten gelang es mir, die Trägerinnen zu überreden, mich aussteigen zu lassen. Es waren nicht die bunten Blumen, die mein Interesse erregt hatten, sondern ein Weidenbaum, aber nicht geradegewachsen wie die Weiden zu Hause, sondern wunderlich verdreht und gekrümmt. Ich befühlte einen Zweig und war überzeugt, ich könnte ihn dazu bewegen, Wurzeln zu schlagen, mochte aber kein Stück abschneiden, um nicht unwissentlich gegen ein Gebot zu verstoßen. Eine alte Frau bückte sich neben mir, lächelte und strich mit der Hand über ein Beet niedrigwachsender, kleinblättriger Kräuter. Der Duft, der von den Pflanzen aufstieg, war überwältigend, und sie lachte über das Staunen auf meinem Gesicht. Ich hätte gerne länger verweilt, aber meine Trägerinnen bestanden darauf, daß wir uns beeilen mußten, die anderen einzuholen, bevor sie den Palast erreichten. Ich begriff, daß man einen offiziellen Empfang vorbereitet hatte, bei dem auch ich nicht fehlen durfte.
Unser Zug wand sich eine Serpentinenstraße hinauf, immer höher, bis vor dem Palast, einer Anhäufung der farbenfrohen, blütenähnlichen Bauwerke, unsere Sänften abgesetzt wurden. Die Hauptgebäude waren purpurn, im oberen Drittel weiß und erinnerten mich an die Wegrandlupinen und die Blüten der Stranderbse von Bockland. Ich stand neben meiner Sänfte und schaute an dem Palast hinauf, doch als ich mich zu meinen Trägerinnen herumdrehte, um ihnen meine Bewunderung auszudrücken, waren sie verschwunden. Minuten später tauchten sie wieder auf, gewandet wie die übrigen Trägerinnen in Safran und Azur, in Pfirsich und Rosarot, und alle gingen zwischen uns mit Wasserbecken und weichen Tüchern umher, damit wir uns den Staub und die Erschöpfung aus den Gesichtern waschen konnten. Knaben und Jünglinge in gegürteten blauen Tuniken brachten Beerenwein und Honigkuchen. Nachdem jeder Gast mit Wein und Kuchen begrüßt worden war, baten sie uns, ihnen in den Palast zu folgen.
Das Innere des Palastes kam mir so fremdartig vor wie ganz Jhaampe. Ein mächtiger Mittelpfeiler stützte das Hauptgebäude und entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als der gewaltige Stamm eines Baumes, dessen Wurzelwerk sich unter den Pflastersteinen wölbte, mit denen der Boden ausgelegt war. Die Stützen der anmutig gebogenen Wände waren ebenfalls Bäume, und nach einigen Tagen Aufenthalt fand ich heraus, daß das ›Wachsen‹ des Palastes nahezu einhundert Jahre in Anspruch genommen hatte. Als erstes
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