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Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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man habe da und da den Narbenmann gesehen, und die Schauergeschichten, die man sich am Kaminfeuer in den Schenken über jene erzählte, die jetzt in Ingot hausten, verursachten mir Alpträume.
    Die aus Ingot Geflohenen wußten Erschütterndes zu berichten, über Verwandte und Freunde, die nach ihrer Rückkehr nicht wiederzuerkennen gewesen waren, kaltherzige, gefühllose Fremde in der Gestalt der einstigen Lieben. Sie lebten in ihrem Heimatort, als wären sie noch Menschen, aber gerade diejenigen, die sie am besten gekannt hatten, ließen sich nicht täuschen. Dort geschah am hellichten Tag, was man in Bocksburg nicht einmal unter dem Mantel der Nacht zu tun wagte. Die Ungeheuerlichkeiten, die man sich zuraunte, überstiegen meine Vorstellungskraft. Im Hafen von Ingot legten keine Schiffe mehr an, man wich auf andere Erzvorkommen aus. Die Hysterie ging so weit, daß niemand die Flüchtlinge aus dem fluchbeladenen Ort aufnehmen wollte. Wer konnte wissen, mit welchem Übel sie behaftet waren, immerhin hatte der Narbenmann sich ihnen gezeigt. Doch mich bestürzte noch mehr, die Leute sagen zu hören, bald wäre alles vorüber, die widernatürlichen Geschöpfe in Ingot würden sich gegenseitig den Garaus machen, und allem, was heilig ist, sei Dank dafür. Die braven Bürger von Guthaven wünschten denen, die einst die braven Bürger von Ingot gewesen waren, den Tod mit solchem Ernst, als läge darin ihr einziges Heil. Und vermutlich war es so.
    In der Nacht, bevor Lady Quendel und ich wieder zu Veritas' Troß stoßen sollten, um die Rückreise nach Bocksburg anzutreten, erwachte ich aus dem ersten Schlaf. Eine Kerze brannte, Chade saß im Bett und starrte die Wand an. Ohne daß ich ein Wort gesagt hätte, drehte er sich zu mir herum. »Du mußt in der Gabe ausgebildet werden, Junge«, sagte er, als hätte er lange mit sich gerungen, um diesen Entschluß zu fassen. »Böse Zeiten stehen uns bevor und werfen einen langen Schatten in die Zukunft. Es ist eine Zeit, da gute Männer sich auf alle Waffen besinnen müssen, die ihnen zu Gebote stehen. Ich werde noch einmal zu Listenreich gehen und mich nicht wieder abweisen lassen. Böse Zeiten sind angebrochen, Junge. Und ich frage mich, ob wir ihr Ende erleben werden.«
    In den darauffolgenden Jahren stellte ich mir immer und immer wieder dieselbe Frage.

Kapitel 11
Wandlungen
     
    Der Narbenmann ist eine populäre Figur in der Folklore und Literatur der Sechs Provinzen. Ein schlechtes Marionettentheater, das nicht eine Puppe des Narbenmannes besitzt, nicht allein wegen seiner traditionellen Rollen, sondern wegen seiner Eignung als düsterer Mahner oder Vorbote nahenden Unglücks. Manchmal erscheint die Marionette nur als Schatten hinter der Kulisse, um einer Szene die entsprechende unheilvolle Atmosphäre zu verleihen.
    Man sagt, die Wurzeln seiner Legende reichen bis in die dunkle Frühzeit der Herzogtümer zurück, noch vor der Besiedelung durch die Outislander. Bei letzteren hat sich eine Version der ursprünglichen Sage erhalten. Es ist eine Geschichte zur Warnung vor dem Zorn des Meergottes El auf seine abtrünnig gewordenen Günstlinge.
    Als das Meer noch jung war, sah El, der höchste der Uralten, mit Wohlwollen auf das Volk der Inseln. Diesem seinem auserwählten Volk gab er die tiefen Wasser und alles, was darin schwamm, und alle Länder ringsum. Viele Jahre lang war das Volk dankbar. Sie fischten im Meer, wohnten an den Küsten, wo es ihnen gefiel, und bekriegten jeden anderen Stamm, der es wagte, ihnen die Gefilde, die El ihnen zugeeignet hatte, streitig zu machen. Andere, die sich erdreisteten, ihre Gewässer zu befahren, galten ihnen ebenfalls als Feinde. Das Volk gedieh und wurde kühn und stark, denn Els Fluten nährten es. Ihr Dasein war rauh und gefahrvoll, doch es machte ihre Knaben zu tapferen Männern und ihre Maiden zu furchtlosen Frauen in Hof und Haus oder an Deck. Das Volk verehrte El, und nur zu diesem Uralten sandten sie ihre Gebete, nur bei ihm fluchten sie. Und El war zufrieden mit seinem Volk.
    Doch in seiner Großzügigkeit meinte El es zu gut mit seinen Auserwählten. Die harten Winter forderten nur geringen Tribut von ihnen, und die Stürme, die er sandte, waren nicht heftig genug, um ihre Schiffe zu verderben. Folglich wuchs ihre Zahl.
    Ihre Herden vermehrten sich. In fetten Jahren starben die schwachen Kinder nicht, sondern wuchsen heran und blieben zu Hause und machten das Land urbar, um Nahrung für das zahlreich gewordene Vieh zu schaffen

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