Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Angst. Erst als die Häuser ein gutes Stück hinter uns lagen, ließ ich Rußflocke in Schritt fallen und gab Chade die Zügel zurück. Die Straße machte einen Bogen, und neben einer kleinen Baumgruppe hielt ich schließlich an. Ich glaube, bis dahin waren Chades verärgerte Aufforderungen, mein Verhalten zu erklären, überhaupt nicht in mein Bewußtsein gedrungen.
Eine brauchbare Erklärung bekam er nicht. Ich beugte mich vor und schlang Rußflocke die Arme um den Hals. Wir zitterten beide, und ich konnte spüren, daß sie mein Unbehagen teilte. Kaum waren wir etwas zu Atem gekommen, dachte ich wieder an die unheimlichen Bewohner von Ingot und trieb Rußflocke an. Sie setzte sich schwerfällig in Bewegung. Chade lenkte seinen Braunen neben uns und verlangte aufgebracht zu wissen, was in mich gefahren sei. Mein Mund war trocken, meine Stimme schwankte. Ich sah ihn nicht an, als ich meine Angst hervorsprudelte und eine wirre Schilderung dessen, was ich gefühlt hatte.
Als ich verstummte, ritten wir schweigend die von Radfurchen durchzogene Straße entlang. Endlich faßte ich Mut und blickte zu Chade auf. Er betrachtete mich, als wäre mir plötzlich ein Geweih aus der Stirn gesprossen. Ich spürte seine Skepsis. Und ich spürte, wie er sich von mir zurückzog, wenn auch kaum merklich, ein unwillkürliches Abschirmen gegen jemanden, an dem sich unvermutet eine neue, fremde Seite offenbart hatte. Es schmerzte um so mehr, weil er auf die Leute in Ingot nicht auf diese Weise reagiert hatte, und sie waren hundertmal fremdartiger als ich.
»Sie waren wie Marionetten«, erklärte ich. »Wie Gliederpuppen, die zum Leben erwacht sind und ein bitterböses Schauspiel aufführen. Sie hätten nicht gezögert, uns zu töten, wegen unserer Pferde oder unserer Mäntel oder für ein Stück Brot. Sie ...« Ich suchte nach Worten. »Sie sind nicht einmal mehr Tiere. Von ihnen geht kein Leben aus. Nicht das geringste. Sie sind wie Gegenstände, Bücher, Steine oder ...«
»Junge«, sagte Chade in einem Tonfall zwischen Güte und Strenge, »du mußt dich zusammenreißen. Wir haben einen langen, harten Weg hinter uns, und du bist müde. Zuwenig Schlaf, und der Verstand gaukelt einem Dinge vor ...«
»Nein.« Ich wollte ihn um jeden Preis überzeugen. »Du verstehst mich nicht. Das hat nichts mit Mangel an Schlaf zu tun.«
»Wir kehren um.« Er schien mich gar nicht gehört zu haben. Sein schwarzer Umhang bauschte sich in der Morgenbrise, und die Alltäglichkeit dieses Anblicks trieb mir beinahe die Tränen in die Augen. Wie konnten diese seelenlosen Wesen dort hinten in dem Dorf und eine nach taufeuchter Erde duftende Morgenbrise in ein und derselben Welt existieren? Und Chade, der mit so normaler, gelassener Stimme sprach? »Diese Dorfbewohner sind ganz gewöhnliche Sterbliche, Junge, aber sie haben Furchtbares erlebt und benehmen sich deshalb seltsam. Ich kannte ein Mädchen, das mitangesehen hatte, wie sein Vater von einem Bären getötet wurde. Bei ihr war es ganz ähnlich. Länger als einen Monat saß sie einfach nur da, starrte vor sich hin, stieß unartikulierte Laute aus, wenn man sie anredete, und wäre ganz verkommen, wenn man sie nicht gefüttert und saubergehalten hätte. Diese Menschen werden sich erholen, sobald sie wieder in ihr alltägliches Leben zurückgefunden haben.«
»Jemand ist vor uns!« warnte ich ihn. Ich hatte nichts gehört, nichts gesehen, nur mit dem neuen Sinn, dessen ich mir heute bewußt geworden war, das Zupfen an dem unsichtbaren Netz gespürt. Doch als wir nach vorn schauten, zeigte sich, daß wir uns dem Ende einer traurigen Prozession näherten. Einige der Leute führten Packtiere mit sich, andere schoben oder zogen Karren, die mit einem Sammelsurium von Habseligkeiten beladen waren. Sie warfen uns über die Schulter Blicke zu, als wären wir Dämonen, aus dem Nichts aufgetaucht, um sie zu verfolgen.
»Der Narbenmann«! schrie einer, hob die Hand und zeigte auf uns. Sein Gesicht war hager vor Müdigkeit und bleich vor Schrecken. »Die Legenden erwachen zum Leben«, warnte er die anderen, die angstvoll stehengeblieben waren. »Seelenlose Gespenster wandern durch die Ruinen unseres zerstörten Heimatdorfs, und der Narbenmann bringt die Seuche über uns. Wir haben ein zu gutes Leben geführt, und die alten Götter wollen uns strafen. Die fetten Jahre werden unser aller Tod sein.«
»Verdammt noch mal, ich wollte nicht so gesehen werden«, sagte Chade mit zusammengebissenen Zähnen. Seine
Weitere Kostenlose Bücher