Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
dort waren ein handfester Schlag, nicht von der Sorte, die sich ohne weiteres ins Bockshorn jagen läßt. Aber die wir auf der Straße gesehen haben, denen saß die Angst im Nacken. Das waren Menschen, die mit Sack und Pack aus dem Ort flüchteten, der seit Generationen ihre Heimat gewesen ist. Und Familienmitglieder zurückgelassen haben, die in den Ruinen herumwühlen wie streunende Hunde.
Die Drohung der Roten Korsaren war kein leeres Gerede. Ich denke an diese Leute, und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Irgend etwas liegt in der Luft, Junge, und ich ahne, daß uns Schlimmes bevorsteht. Was für ein Gedanke, daß die Roten Korsaren an unseren Küsten Menschen rauben, und wir haben nur die Wahl zu bezahlen, damit sie ihnen den Gnadentod geben und sie nicht zurückschieben wie die Unglückseligen aus Ingot. Und wieder konnten sie zuschlagen, wo wir am wenigsten darauf vorbereitet waren.« Er wandte sich zu mir um, als wollte er noch etwas sagen, aber dann taumelte er plötzlich, seine Beine knickten ein, und er mußte sich setzen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er neigte den Kopf und legte beide Hände an die Stirn.
»Chade!« rief ich erschrocken und stürzte zu ihm hin, doch er wich mir aus.
»Carris«, murmelte er, ohne aufzublicken. »Der Nachteil ist, daß die Wirkung so plötzlich nachläßt. Burrich hatte recht, dich vor dem Teufelszeug zu warnen, Junge, aber manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf so etwas einzulassen.«
Er hob den Kopf. Seine Augen waren trüb, seine Lippen schlaff und feucht. »Ich muß jetzt ausruhen«, sagte er so kläglich wie ein krankes Kind. Ich fing ihn auf, als er vornübersank, half ihm, sich auszustrecken, schob ihm meine Satteltaschen unter den Kopf und deckte ihn mit unseren Umhängen zu. Während der Nacht schlief ich Rücken an Rücken mit ihm, weil ich hoffte, ihn so wärmen zu können, und gab ihm am nächsten Tag den Rest unseres Proviants zu essen.
Gegen Abend hatte er sich so weit erholt, daß er wieder in den Sattel steigen konnte, und unsere Reise nahm ihren Fortgang. Wir ritten langsam und nur bei Nacht. Chade bestimmte die Richtung, aber ich führte, und oft war er kaum mehr als eine stumme Last auf seinem Pferd. Für den Rückweg zur Küste brauchten wir diesmal doppelt so lange. Zu essen gab es wenig, und gesprochen wurde noch weniger. Chade machte den Eindruck, als fiele ihm allein das Denken schwer, und was ihm durch den Kopf ging, fand er zu trostlos, um es in Worte zu fassen.
Er zeigte mir die Stelle, wo ich das Signalfeuer für unser Schiff entzünden sollte. Man schickte das Beiboot ans Ufer, und Chade stieg wortlos ein – sicheres Zeichen dafür, daß er mit seinen Kräften am Ende war. Er setzte einfach voraus, daß ich allein mit den Pferden fertig werden konnte, und was blieb mir anderes übrig, als mich der Aufgabe gewachsen zu zeigen. Anschließend schlief ich wie ein Toter. Dann hieß es, wieder ausladen und das letzte Stück Wegs hinter uns bringen. Kurz vor Tagesanbruch kamen wir in Guthaven an, und Lady Quendel zog wieder in ihre Gemächer im Wirtshaus ein.
Tags darauf konnte ich der Wirtin mitteilen, daß die alte Dame sich besser fühlte und den Wunsch geäußert hätte, etwas zu sich zu nehmen, falls man so gut sein wolle, aus der Küche eine leichte Mahlzeit heraufzuschicken. Tatsächlich schien Chade sich zu erholen, obwohl er in Abständen starke Schweißausbrüche hatte und dann unangenehm süßlich nach Carrisöl roch. Er aß mit Heißhunger und trank große Mengen Wasser, aber nach zwei Tagen trug er mir auf, der Wirtin zu sagen, Lady Quendel gedächte am nächsten Morgen abzureisen.
Ich erholte mich wesentlich schneller und nutzte die Zeit, um durch den Ort zu schlendern, mir die Auslagen in den Läden und auf dem Markt anzusehen und die Ohren nach dem Klatsch offenzuhalten, dem Chade solche Bedeutung zumaß. Was wir auf diese Weise erfuhren, deckte sich mit unseren Erwartungen. Veritas hatte mit seiner Mission Erfolg gehabt, und Lady Grazia war zum Liebling des Volkes avanciert. Schon jetzt machten sich die Auswirkungen bemerkbar: An Straßen und Befestigungen wurde gebaut, der Turm auf Ödholm war mit Kelvars besten Soldaten bemannt und hieß im Volksmund neuerdings Grazias Turm. Doch es wurde auch davon gemunkelt, wie die Roten Korsaren unbemerkt an Veritas' eigenen Türmen vorbeigeschlüpft waren und von den befremdlichen Ereignissen in Ingot. Mehr als einmal hörte ich flüstern,
Weitere Kostenlose Bücher