Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
mageren Hände nahmen die Zügel auf, zogen den Braunen herum. »Komm mit, Junge.« Ohne den Mann anzusehen, der immer noch mit einem zitternden Finger auf uns wies, lenkte er bedächtig, beinahe gemächlich, sein Pferd vom Weg herunter und einen grasbewachsenen Hang hinauf. Sein Verhalten erinnerte an Burrich, wenn er einem mißtrauischen Pferd oder Hund gegenüberstand. Der müde Braune verließ den gebahnten Weg nur widerwillig, doch er trug Chade zum Rand eines Birkenwäldchens auf der Hügelkuppe. Ich starrte ihm verständnislos hinterher. »Komm mit mir, Junge«, wiederholte er über die Schulter, als ich zögerte. »Willst du auf der Straße gesteinigt werden? Keine sonderlich angenehme Erfahrung.«
Ich folgte seinem Beispiel und tat so, als wäre ich mir der Flüchtlinge vor uns gar nicht bewußt. Ihre Aura von Haß und Angst manifestierte sich als ein schwärzlichroter Fleck auf dem frischen neuen Tag. Ich sah eine Frau sich bücken, einen Mann sich von seinem Karren abwenden.
»Sie kommen!« warnte ich Chade, gerade als die feindselige Schar gegen uns vorzurücken begann. Einige wogen Steine in der Hand, andere hatten sich im Wald Äste oder Zweige abgerissen, um sie als Knüppel zu gebrauchen. Alle miteinander hatten das verwahrloste Aussehen von Städtern, die gezwungen waren, im Freien zu leben. Wir waren auf den Rest der Bürger von Ingot gestoßen, jene, die nicht von den Korsaren verschleppt worden waren. Das alles begriff ich in der Sekunde zwischen meinem aufmunternden Zungenschnalzen und Rußflockes ersten kraftlosen Galoppsprüngen hangaufwärts. Unsere Reittiere waren so erschöpft, daß selbst der Steinhagel, der hinter ihnen niederging, sie nicht zu größerer Schnelligkeit anzutreiben vermochte. Wären die Dörfler ausgeruht gewesen oder weniger ängstlich, hätten sie uns leicht einholen können. Doch ich glaube, sie waren heilfroh, uns flüchten zu sehen. Was scherten sie zwei Fremde, und seien sie noch so geheimnisvoll, wenn in den Gassen ihres Heimatortes das Grauen umging.
Sie standen auf dem Weg und schrien und schwenkten ihre Stöcke, bis wir zwischen den Bäumen untertauchten. Chade hatte die Führung übernommen, und ich stellte keine Fragen, als er auf einen parallel verlaufenden Pfad einschwenkte, außer Sicht der Flüchtlinge aus Ingot. Die Pferde zockelten lustlos dahin. Ich war dankbar für die welligen Hügel und lichten Bäume, die uns den Blicken möglicher Verfolger entzogen. Als ich einen Wasserlauf glitzern sah, machte ich Chade wortlos darauf aufmerksam. Stumm tränkten wir die Pferde und gaben jedem eine Handvoll Korn aus Chades Vorräten. Ich übernahm es, die Sattelgurte zu lockern und ihnen mit Grasbüscheln das verschwitzte Fell abzureiben. Für uns selbst gab es kaltes Wasser aus dem Bach und hartes Wegebrot. Chade schien mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein, und ich respektierte sein Schweigen, bis ich schließlich meine Neugier nicht mehr beherrschen konnte.
»Bist du wirklich der Narbenmann?«
Chade schrak zusammen, dann starrte er mich an. Sein Blick enthielt zu gleichen Teilen Erstaunen und Traurigkeit. »Der Narbenmann? Der legendäre Bringer von Seuchen und Katastrophen? Aber Junge, du bist doch nicht dermaßen einfältig. Die Sage gibt es seit Jahrhunderten von Jahren. Du kannst nicht glauben, daß ich so alt bin.«
Ich zuckte die Schultern. Es lag mir auf der Zunge zu sagen: »Dein Gesicht ist voller Narben, und du bringst den Tod«, aber ich sprach es nicht aus. Chade kam mir manchmal uralt vor und manchmal so tatkräftig, daß man glaubte, einen sehr jungen Mann in einem alten Körper vor sich zu haben.
»Nein, ich bin nicht der Narbenmann«, fuhr er fort, halblaut, wie zu sich selbst. »Doch nach dem heutigen Tag wird die Nachricht von seinem Auftauchen durch die Sechs Provinzen fliegen wie Blütenstaub im Wind. Es wird von Seuchen und Pestilenz die Rede sein, von göttlichem Strafgericht für obskure Missetaten. Ich wünschte, ich wäre auf dieser Reise unentdeckt geblieben. Die Einwohner unseres Königreichs sind schon verschreckt genug. Andererseits haben wir größere Sorgen als das Widererwachen eines alten Aberglaubens. Auch wenn mir rätselhaft ist, woher du das wissen konntest, aber du hattest recht. Ich habe nachgedacht, gründlich nachgedacht, über alles, was in Ingot geschehen ist. Und über die Worte der Dörfler, die uns steinigen wollten. Und darüber, wie sie alle aussahen. Ich bin früher einige Male in Ingot gewesen. Die Leute
Weitere Kostenlose Bücher