Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
ostentative Geste, die von den Anwesenden wohl zur Kenntnis genommen wurde. Edel schien noch nicht genug zu haben. Er blieb sitzen, leerte Becher um Becher und führte murmelnd Selbstgespräche. Ich selbst schlüpfte kurz nach Veritas und Kettricken hinaus, um in mein Schlafgemach hinaufzugehen.
Ich machte nicht den Versuch einzuschlafen, sondern legte mich angekleidet aufs Bett und schaute ins Feuer. Als sich die Geheimtür öffnete, sprang ich auf und erstieg die Treppe zu Chades Domizil. Ich traf ihn aufgeregt an wie nie, sogar seine bleichen, narbigen Wangen hatten einen rosigen Schimmer. Das graue Haar stand ihm wild um den Kopf, seine grünen Augen glitzerten wie Smaragde. Er ging ruhelos auf und ab. Als ich hereinkam, schloß er mich tatsächlich kurz und heftig in die Arme, dann trat er zurück und lachte laut über meinen schockierten Gesichtsausdruck.
»Sie ist die geborene Herrscherin! Die geborene Herrscherin, und endlich ist sie aufgewacht, um zu zeigen, was in ihr steckt. Genau zur rechten Zeit! Vielleicht wird sie unser aller Retterin sein!«
Seine Euphorie mutete beinahe unheimlich an.
»Du weißt nicht, wieviel Menschen heute gestorben sind«, warf ich ihm vor.
»Aber nicht vergebens! Wenigstens nicht vergebens! Das waren keine vergeudeten Leben, FitzChivalric. Bei El und Eda, Kettricken hat den Instinkt und die Ausstrahlung! Würde dein Vater noch leben und sie säße neben ihm auf dem Thron, hätten wir einen König und eine Königin, die fähig wären, die ganze Welt unter ihrem Zepter zu vereinen.« Er trank einen Schluck Wein und nahm sein Umherwandern wieder auf. Ich hatte ihn nie so überschwenglich gesehen. Fehlte nur noch, daß er Freudensprünge machte. Auf einem Tisch stand ein Korb mit aufgeklapptem Deckel, der Inhalt war auf einem Tuch ausgebreitet. Wein, Käse, Würste, Essiggemüse und Brot. Also selbst hier in seinem Malepartus nahm Chade Anteil am Leichenschmaus. Schleicher, das Wiesel, hüpfte am mir entgegengesetzten Ende auf den Tisch und betrachtete mich mit futterneidischen Augen an den Leckerbissen vorbei. Chades Stimme riß mich aus meinen Gedanken.
»Sie besitzt viele von den Fähigkeiten, die auch Chivalric hatte. Den Instinkt, eine sich bietende Gelegenheit zu ergreifen und zu nutzen. Sie wandelte zu großer Tragödie, was in anderen Händen ein Schlachtfest geworden wäre. Junge, Bocksburg hat eine Königin, eine wirkliche Königin!«
Ich fühlte mich ein wenig abgestoßen von seiner Freude. Und, für einen Augenblick, betrogen. Zögernd fragte ich: »Glaubst du wirklich, die Königin hätte nur Effekthascherei im Sinn gehabt? Daß alles nur ein kalkulierter politischer Schachzug war?«
Er blieb stehen und überlegte. »Nein. Nein, FitzChivalric, ich glaubte, sie folgte der Stimme ihres Herzens. Aber deswegen ist es nicht weniger brillant. Ah, du hältst mich für zynisch. Oder für gefühllos in meiner Ignoranz. Die Wahrheit ist, ich weiß nur zu gut Bescheid, weiß viel besser als du, was der heutige Tag bedeutet. Ich weiß, heute sind Menschen gestorben. Ich weiß sogar, daß sechs unserer eigenen Leute Verletzungen davongetragen haben, überwiegend weniger schwere. Ich kann dir die genaue Zahl der toten Entfremdeten nennen, und wenn du mir einen Tag Zeit gibst, auch ihre Namen. Namen, die in meinen Aufzeichnungen über die Greueltaten der Roten Korsaren enthalten sind, über die ich getreulich Buch geführt habe. Ich werde es sein, Junge, der dafür sorgt, daß die Beutel mit dem Blutgeld überlebenden Angehörigen ausgehändigt werden, dazu ein Schreiben, enthaltend den Dank und das Beileid Seiner Majestät sowie die Bitte, ihn bei seinem Vergeltungsschlag gegen den Feind zu unterstützen. Keine angenehmen Briefe, die ich zu schreiben habe, Fitz, aber ich werde sie aufsetzen, in Veritas’ eigener Handschrift, um vom König unterzeichnet und gesiegelt zu werden. Oder hast du geglaubt, ich täte nichts anderes, als für meinen König zu morden?«
»Ich bitte um Entschuldigung. Es hat mich nur gewundert, wie du so vergnügt sein kannst…«
»Aber ich bin vergnügt! Und du solltest es auch sein! Wir trieben steuerlos auf dem Meer, ein Spielball von Wind und Wellen. Aber nun tritt eine Frau auf, um das Ruder zu ergreifen und den Kurs zu bestimmen. Und ich sage dir, es ist ein Kurs, der mir gefällt. Wie jedem anderen in diesem Königreich, dem die Duckmäuserei der vergangenen Jahre gegen den Strich gegangen ist. Wir erheben uns, Junge, wir erheben uns, um zu
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