Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
so erlebt. Erzürnt, verausgabte er seine gesamte Gabenkraft in einem gewaltigen Ausbruch, ohne zu bedenken, was nachher mit ihm geschehen mochte. Ich spürte Wills überraschtes Zögern, dann stürzte er sich in den Strom, griff hinaus nach Veritas und versuchte, sich an ihn zu heften.
Ich will euch etwas zu entdecken geben, ihr Schlangengezücht! Und mein König schlug die Anmaßenden mit seinem gerechten Zorn.
Veritas’ Gabenattacke erfolgte mit einer Wucht, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie war nicht gegen mich gerichtet, dennoch fiel ich auf die Knie. Ich hörte Carrod und Burl aufheulen, ein kehliges Brüllen des Entsetzens. Plötzlich klärten sich mein Kopf und mein Blick, und ich sah den Raum, wie er immer gewesen war, die Bewaffneten aufgereiht zwischen mir und der Kordiale. Will lag besinnungslos auf dem Boden ausgestreckt. Vielleicht spürte nur ich, wie ungeheuer viel von seiner bemessenen Kraft Veritas aufwenden mußte, um mich zu retten. Die Soldaten taumelten, vorläufig außer Gefecht gesetzt. Ich fuhr herum, sah, wie die Tür sich hinter mir öffnete und weitere Bewaffnete hereinstürmten. Drei Schritte bis zum Fenster.
KOMM ZU MIR!
Der Befehl ließ mir keine Wahl. Mit dem reinen Feuer der Gabe brannte er sich in mein Gehirn, wurde eins mit meinem Atem und dem Schlag meines Herzens. Ich mußte zu Veritas gehen. Es war nicht nur ein Befehl, sondern auch ein Hilferuf. Mein König hatte seine Stärke verausgabt, um mich zu retten.
Vor den Fenstern Vorhänge aus schwerem Stoff, die Scheiben dahinter aus dickem Glas. Weder das eine noch das andere hielten mich auf, als ich mich hindurchschnellte und dabei hoffte, daß unten wenigstens etwas Buschwerk meinen Sturz dämpfte. Doch im nächsten Augenblick landete ich inmitten eines Regens von Glassplittern auf dem Rasen. Statt aus dem zweiten Stock, wie erwartet, war ich aus einem Fenster im Erdgeschoß gesprungen. Ich nahm mir den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um Will im stillen meine Anerkennung dafür auszusprechen, wie brillant er mich getäuscht hatte, bevor ich mich torkelnd erhob und mein Heil in der Flucht suchte.
Die Umgebung des Gesindetrakts war mehr als spärlich beleuchtet. Ich segnete die Dunkelheit. Hinter mir hörte ich Rufe, dann Burl, der mit überschnappender Stimme Befehle gab. Gleich würden die Verfolger auf meiner Fährte sein. Ein Entkommen zu Fuß war unmöglich. Ich lief auf den sich tiefschwarz vom klaren Nachthimmel abhebenden Komplex des Marstalls zu.
Der Aufbruch der Festgäste hatte emsige Betriebsamkeit ausgelöst. Die meisten der Stallburschen befanden sich wahrscheinlich an der Vorderseite des Schlosses und hielten die Pferde. Das Stalltor stand weit offen, und drinnen brannten Laternen. Als ich hindurchstürmte, hätte ich beinahe eine Stallhelferin umgerannt. Sie konnte nicht älter als zehn Jahre sein, ein mageres, sommersprossiges Mädchen. Beim Anblick meiner gezückten Waffen stieß sie einen Schrei aus.
»Ich will mir nur ein Pferd nehmen«, beruhigte ich sie. »Keine Angst, ich tue dir nichts.« Nacheinander schob ich mein Messer und das Schwert in die Scheide. Die Kleine wich Schritt für Schritt vor mir zurück. Plötzlich warf sie sich herum. »Flink! Flink!« Während sie davonlief, rief sie mit schriller Kinderstimme seinen Namen. Ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern.
Drei Boxen weiter entdeckte ich Edels eigenen Rappen, Pfeil, der mich über die Tür hinweg neugierig ansah. Ich ging langsam auf ihn zu und streichelte seine Nase, als behutsamen Versuch, unsere Bekanntschaft zu erneuern.
Es mochte acht Monate her sein, seit er mich zuletzt gewittert hatte, doch ich kannte ihn seit dem Tag seiner Geburt. Er knabberte an meinem Kragen, und seine Tasthaare kitzelten mich am Hals. »Wie wär’s, alter Junge, unternehmen wir einen nächtlichen Ausritt? Ganz wie in alten Zeiten.« Ich öffnete die Boxentür, griff nach seinem Stallhalfter und führte ihn hinaus. Das Mädchen war spurlos verschwunden, auch rufen hörte ich sie nicht mehr.
Pfeil war ein großrahmiges Tier und nicht daran gewöhnt, ohne Sattel geritten zu werden, und so buckelte er ein wenig, als ich mich auf seinen glatten Rücken zog. Trotz der Gefahr, in der ich mich befand, bereitete es mir eine verwegene Freude, wieder auf einem Pferd zu sitzen. Ich griff in seine Mähne und trieb ihn mit den Knien die Stallgasse entlang. Er tat drei Schritte, dann blieb er vor dem Mann stehen, der sich uns in den Weg stellte. Ich blickte
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