Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
ich Erleichterung, dann kamen mir Zweifel. Nein. Das war im Erdgeschoß gewesen, jetzt befand ich mich im zweiten Stock. Oder? Ich ging zum Fenster, stellte mich an die Seite und schaute hinaus. Tief unter mir lag das von Fackeln erleuchtete Gelände der königlichen Gärten. Ich konnte das Weiß der kiesbestreuten Auffahrt in der Dunkelheit schimmern sehen. Kutschen fuhren in langer Reihe vor dem Portal des Schlosses vor, und livrierte Diener beeilten sich, für die herausströmenden, ausnahmslos in Rot gewandeten Festgäste die Schläge aufzureißen. Es schien, als hätte Verdes Schicksal Edels Ball ein abruptes Ende bereitet. Wachen an der Tür regelten, wer gehen durfte und wer warten mußte. All das nahm ich auf einen Blick wahr und merkte gleichzeitig, daß ich mich in einem höheren als dem zweiten Stockwerk befinden mußte.
Aber ich war sicher, daß dieser Zuschneidetisch und das auf Nadel und Faden wartende blaue Gewand sich im Gesindetrakt des Erdgeschosses befunden hatten.
Nun, es war Edel zuzutrauen, daß er sich zwei verschiedene blaue Gewänder schneidern ließ. Keine Zeit, dieses Rätsel zu lösen, ich mußte sein Schlafgemach finden. Ich fühlte eine seltsame Euphorie, als ich das Zimmer verließ und wieder den Flur entlanglief, eine Erregung fast wie bei einer spannenden Jagd. Sollten sie doch versuchen, mich zu fangen.
Plötzlich kam ich zu einer T-förmigen Einmündung und blieb einen Augenblick verwirrt stehen. Ich hatte die Architektur des Gebäudes anders in Erinnerung. Ich schaute nach links, dann nach rechts. Rechts war entschieden prunkvoller, und die hohe Flügeltür am Ende des Flurs war mit der goldenen Eiche von Farrow geschmückt. Wie um mir einen Anstoß zu geben, hörte ich aus einem Zimmer links von mir das Murmeln zorniger Stimmen. Ich wandte mich nach rechts und zog im Laufen mein Messer. Vor der Flügeltür angelangt, legte ich vorsichtig die Hand auf die Klinke und stellte zu meiner großen Überraschung fest, daß nicht abgeschlossen war. Fast wurde es mir zu leichtgemacht. Ich überhörte die zaghafte Warnung meiner inneren Stimme, öffnete und trat ein.
Der Raum vor mir war dunkel bis auf zwei brennende Kerzen in Silberhaltern auf dem Kaminsims. Offenbar befand ich mich in Edels Wohngemach. Eine zweite Tür stand einen Spaltbreit offen. Man sah die Ecke eines Bettes mit prachtvollen Vorhängen und dahinter einen Kamin mit aufgestapelten Holzscheiten. Ich zog die Tür leise hinter mir ins Schloß und trat weiter ins Zimmer. Auf einem niedrigen Tischchen erwarteten eine Karaffe Wein und zwei Gläser Edels Rückkehr, dazu eine Platte mit Konfekt. Das Räuchergefäß daneben war frisch gefüllt mit Glimmkraut, um angezündet zu werden, sobald er hereinkam. Der Wunschtraum eines Assassinen. Ich wußte kaum, wo ich anfangen sollte.
»Ich hoffe, du verstehst das Bühnenbild zu würdigen.« Beim Klang der Stimme wirbelte ich herum, doch plötzlich verschwamm alles vor meinen Augen, ich erlebte einen furchtbaren Augenblick der Orientierungslosigkeit, und als ich wieder zu mir kam, stand ich in der Mitte eines hell erleuchteten, aber ziemlich kahlen Zimmers. Will saß in einer Haltung überheblicher Nonchalance in einem weich gepolsterten Sessel, neben sich auf einem Tischchen ein Glas Weißwein, Carrod und Burl links und rechts zur Seite. Sie wirkten verdrossen und betreten. Trotz des Verlangens, mir über meine veränderte Umgebung Klarheit zu verschaffen, wagte ich nicht, den Blick von ihnen abzuwenden.
»Nur zu, Bastard, sieh’s dir an. Keine Angst, daß ich dich angreife. Es wäre jammerschade, wenn du sterben müßtest, ohne dir im klaren darüber zu sein, in welch ausgeklügelte Falle du getappt bist. Nur zu. Sieh dich um.«
Ich folgte der Aufforderung. Fort, alles verschwunden. Kein prunkvolles Wohnzimmer, kein Baldachinbett, keine Weinkaraffe, nichts. Ein karger, schmuckloser Raum, den vielleicht mehrere Lakaien oder Kammerzofen sich als Unterkunft teilten. Sechs Mann der Leibgarde warteten stumm und mit gezückten Schwertern auf Befehle.
»Meine Freunde schmeicheln sich, eine Inundation mit Angst würde jeden Mann aus seinem Schlupfloch treiben. Aber sie hatten natürlich auch noch nicht die Gelegenheit, das ganze Ausmaß deiner Willenskraft zu erfahren, so wie ich. Ich hoffe, du weißt die Raffinesse meiner Vorgehensweise gebührend zu würdigen, dich einfach nur in dem zu bestärken, was du dir am meisten wünschtest zu sehen.« Er schaute erst Carrod an, dann Burl.
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