Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Fußtritten, bis ihm wieder leichter ums Herz wurde. Erst gegen Morgen fiel ihm ein, sich zu erkundigen, ob auch die Vagantin befreit worden sei. Ja, sagte man ihm. Das, verkündete Burl, sei der Beweis, daß der Überfall im Grunde genommen mir gegolten hätte. Er verdreifachte meine Wache für den Rest der Nacht und für die nächsten zwei Tage bis Mondesauge. Wie man sich denken kann, sahen wir nichts mehr von unseren Angreifern; sie hatten, was sie wollten und waren untergetaucht. Bestimmt hatte Nik auch auf dieser Seite des Flusses seine Schlupfwinkel. Ich hegte nicht unbedingt die wärmsten Gefühle für den Mann, der mich verkauft hatte, doch ich mußte ihm widerwillig Respekt dafür zollen, daß er bei seiner Flucht die Pilger mitgenommen hatte. Vielleicht lieferte der Handstreich Merle Stoff für eine Ballade.
Mondesauge erweckte von außen den Anschein einer kleinen Stadt, eingeschmiegt in eine Falte der Bergausläufer. Es gab nur wenige umliegende Gehöfte, und die gepflasterten Straßen begannen unmittelbar hinter der hölzernen Palisade, die den Ort umgab. Von einem Turm herab rief uns ein Posten an. Erst nachdem wir das Tor passiert hatten, zeigte sich, wie lebhaft und geschäftig es in den Gassen zuging. Ich wußte von meinen Stunden bei Fedwren, daß Mondesauge ein wichtiger militärischer Außenposten der Sechs Provinzen gewesen war, bevor es zu einem Rastplatz für Karawanen auf dem Weg in die Berge wurde. Nun kamen Kaufleute, die mit Bernstein, Pelzen und Elfenbeinschnitzereien handelten, in die Stadt und brachten ihr Reichtum. Oder so war es zumindest gewesen, seit mein Vater die Chyurda überredet hatte, ein Abkommen über die freie Nutzung der Straßen und Pässe im Bergreich zu unterzeichnen.
Die von Edel geschürten Feindseligkeiten hatten alles geändert. Mondesauge hatte sich zu der Garnison zurückentwickelt, die es zur Zeit meines Großvaters gewesen war. Die Soldaten, die durch die Gassen marschierten, trugen Edels Braun und Gold statt des blauen Waffenrocks der Marken, aber Militär ist Militär. Die Kaufleute besaßen das strapazierte, argwöhnische Gebaren von Männern, die nur nach den Interimsscheinen ihres Souveräns gerechnet reich sind und sich fragen, wie profitabel sich die Anlage auf die Dauer erweisen wird. Unsere Prozession erregte die Aufmerksamkeit der Bürger, aber sie legten nur eine flüchtige Neugier an den Tag. Ich fragte mich, seit wann es als unklug gelten mochte, sich allzusehr um die Belange des Königs zu kümmern.
Ungeachtet meiner Müdigkeit, schaute ich mich interessiert nach allen Seiten um. Hierher hatte mein Großvater mich gebracht, um den unerwünschten Enkel und unnützen Esser an die Familie des Erzeugers abzuschieben, und hier hatte Veritas mich an Burrich weitergereicht. Ich hatte oft darüber nachgedacht, ob die Familie meiner Mutter in der Nähe von Mondesauge ansässig gewesen war oder ob wir einen weiten Weg zurückgelegt hatten, um zu meinem Vater zu gelangen. Doch ich hielt vergeblich nach irgend etwas Ausschau, das in mir Erinnerungen an meine versunkene Kindheit weckte. Mondesauge wirkte auf mich nicht fremder und nicht vertrauter als jede andere Stadt dieser Größe, in der ich gewesen war.
Es wimmelte von Soldaten. An jedem freien Platz hatte man zusätzliche Zelte und Verschlage errichtet. Es sah aus, als wäre die Bevölkerungszahl in jüngster Zeit sprunghaft angestiegen. Schließlich kamen wir zu einem Hof, den die Tiere im Troß als Zuhause erkannten. Wir mußten zum Appell antreten und wurden mit militärischer Präzision entlassen. Meine Wache führte mich zu einer niedrigen, wenig einladenden Holzbaracke ohne Fenster. Drinnen gab es einen großen Raum, worin ein alter Mann auf einem Hocker am brennenden Kamin saß. Der behaglichen Atmosphäre eher abträglich waren drei Türen mit kleinen vergitterten Fenstern, die von dem Raum abzweigten. Ich wurde durch eine davon in die dahinter befindliche Zelle geschoben; dann durchschnitt man meine Fesseln und ließ mich allein.
Allgemein betrachtet, war dies das gemütlichste Gefängnis, in dem ich je geschmachtet hatte. Der Gedanke nötigte mir ein schiefes Grinsen ab. Die Einrichtung bestand aus einer seilbespannten Pritsche mit einer Strohmatratze sowie einem Nachttopf in der Ecke. Durch das vergitterte Guckfenster drang etwas Licht und Wärme vom Feuer her, so daß der kleine Raum mein bei weitem angenehmster Aufenthaltsort seit langem war. Der Raum hatte nichts von der Düsternis
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