Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
dann schrie sie auf. Dennoch hörte man deutlich das zweimalige kurze Knacken, mit dem ihre Finger brachen, als der Mann sie an den Gelenken nach hinten bog.
»Laß sehen«, befahl Burl.
Als verübelte er Merle, daß er gezwungen gewesen war, eine solche Scheußlichkeit zu begehen, stieß der Soldat sie grob zu Boden, so daß sie vor Burls Füßen mit dem Gesicht auf dem Schaffell lag. Nach dem einen Schrei hatte sie keinen Ton mehr von sich gegeben. Die beiden letzten Finger ihrer linken Hand standen in scharfem Winkel von den anderen ab. Burl betrachtete sie und nickte zufrieden.
»Bring sie weg. Sorge dafür, daß sie gut bewacht wird. Dann komm wieder und melde dich bei deinem Feldwebel. Sobald er mit dir fertig ist, wirst du dich mir vorstellen.« Burl gab seine Anweisungen, als wäre nichts Besonderes vorgefallen.
Der Soldat zog Merle am Kragen in die Höhe. Er sah angewidert und wütend aus, als er sie aus dem Zelt stieß. Burl nickte dem Feldwebel zu. »Laß ihn jetzt aufstehen.«
Ich schaute auf Burl hinunter, und er schaute zu mir auf, doch es gab nicht den geringsten Zweifel daran, wer Herr der Lage war. Mit überlegener Ruhe bemerkte er:
»Vorhin hast du gesagt, daß du verstehst, was ich meine. Nun verstehst du es wirklich. Die Reise nach Mondesauge kann für dich schnell und leicht sein, FitzChivalric. Und für die anderen. Oder das Gegenteil. Es liegt ganz bei dir.«
Ich gab keine Antwort. Es war keine Antwort nötig.
Burl nickte dem zweiten Soldaten zu. Er führte mich aus Burls Zelt in ein anderes, in dem sich vier Männer der Leibwache aufhielten. Er gab mir Brot und Fleisch und einen Becher Wasser. Ich hielt still, als er mir die Hände nach vorn fesselte, damit ich essen konnte. Anschließend wies er auf eine Decke, und ich ging zu ihr hinüber hin wie ein folgsamer Hund. Wieder banden sie mir die Hände auf den Rücken und fesselten meine Beine. Das Feuerbecken brannte die ganze Nacht, und immer waren mindestens zwei Wachen im Zelt.
Mir war es gleich. Ich drehte mich zur Wand und schloß die Augen, doch nicht, um zu schlafen, sondern ich ging zu meinem Wolf. Sein Fell war so gut wie trocken, aber er schlief noch immer den Schlaf der Erschöpfung. Der Kampf gegen die Gewalten des Wassers hatte seinen Tribut gefordert. Ich klammerte mich an den kleinen Trost, der mir geblieben war. Nachtauge lebte und hatte ein sicheres Versteck gefunden, um sich zu erholen. Doch an welchem Ufer des Flusses?
Kapitel 18
Mondesauge
Mondesauge ist eine kleine, aber befestigte Stadt an der Grenze zwischen den Sechs Provinzen und dem Bergreich. Dort ergänzen Reisende ihren Proviant und ihre Ausrüstung, und der Ort ist ein traditioneller Rastplatz der Handelskarawanen, die auf dem Chelikapfad und über den Weites-Tal-Paß in die Länder jenseits des Bergreichs ziehen. In Mondesauge hatte Prinz Chivalric seinen Stützpunkt, während er mit dem Chyurda-Prinzen Rurisk, dem Thronerben des Bergreichs, seinen letzten großen Friedens- und Freundschaftsvertrag aushandelte. Unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens stellte sich heraus, daß Chivalric der Vater eines illegitimen Sohnes war, gezeugt mit einer Einheimischen und bereits an die sechs Jahre alt. König-zur-Rechten Chivalric brachte die Mission zu einem Abschluß und kehrte sofort nach Bocksburg zurück, wo er von seiner Gemahlin, seinem Vater und seinem Volk für den in jugendlicher Torheit begangenen Fehltritt Vergebung erbat und seinen Verzicht auf den Thron erklärte, um mögliche Unklarheiten in der Reihenfolge der Erbfolge zu vermeiden.
Burl hielt sein Wort. Tagsüber marschierte ich unter Bedeckung, abends wurde ich in einem Zelt untergebracht und man band mir die Hände los, damit ich essen konnte. Niemand war unnötig grausam zu mir. Ich weiß nicht, ob Burl angeordnet hatte, man solle mich in Ruhe lassen, oder ob so viele Schauergeschichten über den Mannwolf und Giftmischer im Umlauf waren, daß man sich tunlichst von mir fernhielt; aber wie auch immer: Meine Reise nach Mondesauge war nicht schlimmer, als in Anbetracht des schlechten Wetters und der Armeeverpflegung zu erwarten. Man hielt mich getrennt von den Pilgern, deshalb wußte ich nicht, wie es ihnen, Krähe und Merle erging. Meine Bewacher unterhielten sich nicht in meiner Gegenwart, und daher erfuhr ich auch nichts von dem, was an Spekulationen und Gerüchten unter den Mannschaften kursierte. Allein bei dem Gedanken an Merle und was man ihr angetan hatte, wurde mir
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