Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
die Augen.
Ein heller Vormittag und ein Klopfen an der Tür. Das Fieber, das in mir brannte, hielt mich in einem wellenförmig verlaufenden Dämmerzustand, manchmal tiefer, manchmal lichter. Ich hatte Weidenrindentee getrunken, bis mein Bauch gluckerte; trotzdem tat mein Kopf weh, und ich fror entweder oder schwitzte. Das Klopfen wiederholte sich, lauter diesmal, und Krähe stellte die Tasse hin, die sie mir aufdrängen wollte. Der Narr saß an seiner Werkbank. Er legte sein Schnitzmesser beiseite, aber Krähe war mit einem: »Ich gehe schon!« bei der Tür und öffnete, bevor er Sagen konnte. »Nein, laß mich.«
Merle drängte herein, so energisch, daß Krähe mit einem überraschten Ausruf zurückwich. Die Vagantin schob sich an ihr vorbei ins Haus und schüttelte den Schnee von Haube und Umhang. Dabei warf sie dem Narren einen frohlockenden Blick zu. Der Narr erwiderte ihn mit einem liebenswürdigen Nicken, als hätte er sie erwartet; dann wandte er sich ohne ein Wort zu verlieren wieder seiner Schnitzerei zu. Das kämpferische Funkeln in Merles Augen wurde hitziger, und ich spürte, daß sie einen Trumpf im Ärmel hatte, den sie sich auszuspielen freute. Sie schloß die Tür und fegte in den Raum wie der Nordwind persönlich. Neben meinem Bett ließ sie sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. »Endlich, Fitz. Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Krähe hat mir gesagt, daß du verwundet bist. Ich hätte dich schon früher besucht, doch man hat mir jedesmal den Zutritt verwehrt. Wie geht es dir heute?«
Ich bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen. Wenn sie sich nur langsamer bewegen und leiser sprechen würde! »Es ist zu kalt hier drin«, beschwerte ich mich grämlich. »Und mir ist mein Ohrring abhanden gekommen.« Der Verlust war mir erst an diesem Morgen aufgefallen, und er lag mir schwer auf der Seele. Ich wußte nicht, weshalb mir das Schmuckstück so wichtig war, aber ich mußte ständig darüber nachgrübeln, wo ich es verloren haben könnte. Vielleicht war nicht allein das Fieber für meine Kopfschmerzen verantwortlich.
Merle streifte ihre Fäustlinge ab. Eine Hand war noch immer verbunden, die andere legte sie an meine Stirn. Wohltuende Kühlung. »Er glüht ja!« warf sie dem Narren vor. »Hast du nicht Verstand genug, ihm Weidenrindentee zu geben?«
Der Narr schabte eine weitere Locke vom Holz. »Eine volle Kanne steht neben deinem Knie, falls du sie nicht umgestoßen hast. Wenn du ihm noch einen Schluck davon einflößen kannst, bist du ein besserer Mann als ich.« Eine weitere Locke.
»Das wäre nicht besonders schwer«, entgegnete Merle spitz und dann in freundlicherem Ton zu mir: »Dein Ohrring ist nicht verlorengegangen. Schau, hier habe ich ihn.« Sie brachte ihn aus dem Beutel an ihrem Gürtel zum Vorschein. Ein kleiner Teil meines Verstandes war noch klar genug, um festzustellen, daß sie die warme Kleidung des Bergvolks trug. Ihre Hände waren kalt und etwas rauh, als sie mir den Schmuck wieder ans Ohrläppchen nestelte.
»Woher hast du ihn?« fiel es mir ein zu fragen.
»Ich bat Krähe, ihn mir zu bringen«, gab Merle freimütig Auskunft. »Als er mich nicht zu dir lassen wollte. Ich brauchte etwas, ein Pfand, um Kettricken zu beweisen, daß ich die Wahrheit sagte. Ich bin heute bei ihr gewesen und habe mit ihr und ihren Ratgebern gesprochen.«
Der Name der Königin zerriß den Nebel der Benommenheit in meinem Kopf. »Kettricken! Was hast du getan?« rief ich bestürzt. »Was hast du ihr erzählt?«
Merle schaute mich erstaunt an. »Nun, was sie wissen muß, damit sie dich bei deinem Vorhaben unterstützt. Daß du wirklich noch am Leben bist. Daß Veritas nicht tot ist. Daß man Molly eine Nachricht senden muß, damit sie nicht verzagt, sondern guten Mutes wartet, bis du zurückkehrst. Daß...«
»Ich habe dir vertraut!« rief ich aus. »Ich habe dir meine Geheimnisse anvertraut, und du hast mich verraten. Was für ein Narr ich gewesen bin!« Verzweiflung übermannte mich. Alles, alles war verloren.
»Nein, ich bin der Narr«, mischte er sich in unser Gespräch. Er kam hinter seinem Arbeitstisch hervor, trat zu mir ans Bett und schaute mich an. »Um so mehr, weil ich glaubte, du hättest Vertrauen zu mir«, fuhr er fort, und ich hatte ihn noch nie so bleich gesehen. »Dein Kind. Ein echter Sproß aus dem Geschlecht der Weitseher.« Seine flackernden gelben Augen huschten von Merle zu mir. »Du weißt, was eine solche Kunde mir bedeutet. Weshalb? Weshalb hast du mich
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