Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
angelogen?«
Ich wußte nicht, was schlimmer war: Die schmerzliche Enttäuschung in den Augen des Narren oder der triumphierende Blick, den Merle ihm zuwarf.
»Ich mußte lügen, um das Kind zu schützen. Es ist meine Tochter, meine und Mollys. Sie soll umsorgt und geliebt aufwachsen, in der Obhut ihrer Eltern, und nicht ein Werkzeug sein für einen Königmacher. Und Molly soll nicht von einem Fremden erfahren, daß ich noch lebe. Ich will selbst vor sie hin treten. Merle, wie konntest du mir das antun? Weshalb war ich ein solcher Dummkopf? Weshalb habe ich nicht den Mund gehalten?«
Nun sah Merle ebenso verletzt aus wie der Narr. Sie erhob sich steif, und als sie sprach, war ihre Stimme kalt. »Ich wollte nichts anderes, als dir helfen. Dir helfen zu tun, was du tun mußt.« Hinter ihr flog durch einen Windstoß die Tür auf. »Die Frau hat ein Recht zu wissen, daß ihr Gemahl noch am Leben ist.«
»Von welcher Frau ist die Rede?« fragte eine weitere eisige Stimme. Zu meiner Bestürzung erschien Kettricken auf der Schwelle und dicht hinter ihr Chade. Kettricken betrachtete mich mit einem durchbohrenden Blick. Gram hatte sie gezeichnet, hatte neben ihrem Mund tiefe Kerben eingegraben und ihre Wangen ausgehöhlt. Und jetzt loderte außerdem Zorn in ihren Augen. Die kalte Bö, die mit ihr hereinfegte, brachte mir nur einen kurzen Augenblick Kühlung, dann schloß sich die Tür und meine Augen wanderten von einem vertrauten Gesicht zum nächsten. Ich fühlte mich bedrängt von starren Mienen und kalten Augen. Nirgends ein Lächeln. Kein Willkommen, keine Freude, nur die aufgewühlten Emotionen als Folge der von mir ausgelösten Veränderungen. Das war die Begrüßung für den Katalysator. Niemand schien irgendwelche freundlichen Gefühle für mich zu hegen.
Niemand, außer Chade. Während er mit langen Schritten den Raum durchquerte, zog er seine Reithandschuhe aus, und als er die Kapuze zurückwarf, sah ich, daß sein schlohweißes Haar zu einem Kriegerzopf zurückgebunden war. Er trug ein Lederband um den Kopf, und daran hing in der Mitte der Stirn ein silbernes Medaillon. Ein Rehbock mit zum Angriff gesenktem Gehörn – das Siegel, das Veritas mir gegeben hatte. Merle trat hastig zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Ohne sie zu beachten, ließ er sich mit gekreuzten Beinen neben meinem Bett auf dem Boden nieder. Er griff nach meiner Hand, und seine Augen wurden schmal, als er die Erfrierungen bemerkte. »O mein Junge, mein Junge, ich habe geglaubt, du wärst tot. Als von Burrich die Nachricht kam, er hätte deine Leiche gefunden, dachte ich, mein Herz würde brechen. Daß wir uns im Bösen getrennt hatten... Aber hier bist du ja, lebendig, wenn auch nicht gesund.«
Er beugte sich vor und küßte mich. Die Hand, die an meiner Wange lag, war schwielig. Die Pockennarben konnte man auf der wettergegerbten Haut kaum noch erkennen. Ich schaute in Chades Augen und las darin Glück und Wiedersehensfreude. Tränen verschleierten meinen Blick, als ich ihn fragte: »Würdest du mir wirklich meine Tochter wegnehmen, um sie auf den Thron zu setzen? Noch ein Bastard aus dem Hause Weitseher... Willst du, daß man sie benutzt, wie man uns benutzt hat?«
Etwas wich aus seinen Augen. Sein Mund wurde schmal und hart. »Ich werde tun, was immer nötig ist, um wieder einen ehrenhaften Weitseher auf den Thron der Sechs Provinzen heben zu können. Getreu meinem Schwur. Einem Schwur, den auch du geleistet hast.« Seine Augen bohrten sich in die meinen.
Die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Chade liebte mich. Schlimmer noch, er glaubte an mich. Er glaubte, ich besäße die gleiche Kraft und das gleiche hingebungsvolle Pflichtbewußtsein, die das Leitmotiv seines Lebens gewesen waren. Deshalb hielt er es für selbstverständlich, mich zu peinigen, schlimmer als selbst Edels abartiges Gehirn es auszubrüten vermochte. Sein Glaube an mich war so unerschütterlich, daß er nicht zögern würde, mich jeder Gefahr auszusetzen, jedes Opfer von mir zu verlangen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte mich und den Pfeil in meinem Rücken. »Es nimmt kein Ende!« klagte ich. »Dieser Schwur wird mich bis ins Grab verfolgen. Wäre ich doch tot! Laßt mich sterben!« Ich entriß Chade meine Hand und spürte den Schmerz nicht, den die Bewegung verursachte. »Laß mich!«
Chade zuckte nicht mit der Wimper. »Er glüht vor Fieber«, sagte er vorwurfsvoll zu dem Narren. »Er weiß nicht, was er sagt. Du hättest ihm Weidenrindentee geben
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