Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
stehenblieb.
Sie verlief wie ein gewaltsam anmutender Schnitt durch den Wald, etwa eine Stufe tiefer als der Boden, pfeilgerade und vollkommen eben in das Erdreich geprägt. Die Bäume links und rechts neigten sich darüber, doch keiner hatte mit seinen Wurzeln die Oberfläche aufgebrochen, und man sah auch keine Schößlinge, die das freie Terrain zurückeroberten. Der Schnee auf der glatten Fläche war unberührt, nicht einmal ein trippelnder Vogel hatte in ihm seine Spuren hinterlassen. Seit dem ersten Schneefall war hier niemand mehr gegangen. So weit ich sehen konnte, hatte auch kein Wild die Straße überquert.
Ich tat den Schritt von der Böschung auf die ebene Fläche.
Als geriete man mit dem Gesicht in herabhängende Spinnweben. Ein Stück Eis, das zwischen Hemd und Haut den Rücken hinuntergleitet. Nach einem Marsch durch karrende Kälte die Hitze eines lodernden Herdfeuers. Es war eine körperliche Empfindung, so deutlich wie diese anderen und doch so unerklärlich wie naß oder trocken. Verdutzt blieb ich stehen. Keiner meiner Reisegefährten schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken, als sie von der Böschung auf die Straße hinuntersprangen. Merles einziger, halblaut geäußerter Kommentar lautete, daß wenigstens hier der Schnee weniger hoch lag und das Gehen nicht so mühsam war. Sie wunderte sich nicht einmal, aus welchem Grund hier weniger Schnee liegen sollte, sondern beeilte sich, zu der Kolonne der Jeppas aufzuschließen. Als einige Minuten später Krähe zwischen den Bäumen hervorkam und den Fuß auf die Oberfläche der Straße setzte, stand ich noch immer da und beobachtete. Auch sie blieb stehen, scheinbar verblüfft, und murmelte etwas vor sich hin.
»Hast du gesagt, Gabenwerk ?« forschte ich.
Sie zuckte zusammen, als wäre sie sich meiner Anwesenheit nicht bewußt gewesen und starrte mich einen Augenblick stumm an, bis sie sich gefaßt hatte. »›Teufelswerk‹ habe ich gesagt. Hätte mir bei dem Sprung fast den Knöchel verknackst. Diese Bergstiefel geben soviel Halt wie ein Paar Socken.« Sie wandte sich ab und marschierte hinter den anderen her. Ich folgte ihr. Bei jedem Schritt glaubte ich, mich durch Wasser zu bewegen, ohne den Widerstand von Wasser zu spüren. Das Gefühl ist schwer zu beschreiben. Als wäre ich in einer Strömung gefangen, die mich mitzog.
Es versucht, das Joch abzuschütteln, bemerkte der Wolf erneut. Ich schaute auf und sah ihn neben mir her trotten, doch oben am Rand der Böschung, nicht auf der Straße. Du solltest zu mir hinaufkommen.
Ich dachte darüber nach. Aber ich fühle mich gut. Hier geht es sich leichter, weil der Boden eben ist.
Ja, und Feuer wärmt dich, bis es dich plötzlich verbrennt.
Ich ließ ihm das letzte Wort, schloß zu Krähe auf und ging mit ihr weiter. Nach Tagen erzwungenen Gänsemarschs auf dem schmalen Pfad fand ich es natürlicher, kameradschaftlicher. Wir blieben den ganzen Rest des Nachmittags auf dieser alten Straße. Sie führte stetig bergauf, doch immer gemäßigt, quer zu den Berghängen, so daß die Mühsal sich in Grenzen hielt. Als einziger Makel verunzierten hin und wieder herabgefallene Äste die unberührte Schneedecke, und die meisten davon waren im Zustand der Auflösung begriffen. Mein erster Eindruck bestätigte sich: Ich hatte während des ganzen Marsches keine Tierfährten gesehen.
Nichts Eßbares regt sich hier, bestätigte Nachtauge trübsinnig meinen Eindruck. Ich werde heute abend weit laufen müssen, um mir den Bauch zu füllen.
Warum bis heute abend warten?
Ich will dich nicht allein lassen auf dieser Straße, antwortete er dramatisch.
Was soll mir passieren? Krähe ist hier bei mir, also wäre ich nicht allein.
Sie ist nicht besser als du, lautete Nachtauges Kommentar. Meine Neugier wuchs, aber trotz meiner Fragen war er nicht in der Lage, mir zu erklären, was er meinte.
Doch während der Nachmittag in den Abend überging, begann ich mir selbst Gedanken zu machen. Wieder und wieder ertappte ich mich dabei, wie ich aus lebhaften Tagträumen aufschrak, die sich wie ein Nebel über mein Bewußtsein legten. Wie die meisten Träume, waren sie sofort verflogen und hinterließen nur vage, rasch verblassende Erinnerungsfetzen. Philia, die militärische Kommandos gab, als wäre sie die Königin der Sechs Provinzen. Burrich badete einen Säugling und summte dabei vor sich hin. Zwei Leute, die ich nicht kannte, mühten sich, aus rußgeschwärzten Steinen ihr Häuschen wieder aufzubauen. Unsinnige, bunte
Weitere Kostenlose Bücher