Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
einen leichten Sitz; fast scheint er über dem wogenden Rücken des Tieres zu schweben. Das Mondlicht läßt Silber an der Stirn des Mannes blinken, glänzt auf dem Bockswappen, das er trägt. Chade.
Drei weitere Berittene tauchen auf, zwei hinter ihm, aber ihre Reittiere scheinen mit den Kräften am Ende zu sein. Sie werden den ersten Reiter nicht einholen können, wenn nicht unerwartet etwas zu ihren Gunsten geschieht. Der dritte Verfolger nähert sich im spitzen Winkel. Der Schecke, den er reitet, pflügt kraftvoll durch den tieferen Schnee abseits des Pfades, denn an seinem Reiter hat er nicht viel zu tragen. Nach der zierlichen Statur zu urteilen, ist es eine Frau oder ein junger Bursche. Das Mondlicht spiegelt sich auf einer blanken Klinge. Eine Weile hat es den Anschein, als würde der junge Reiter Chades Bahn kreuzen, aber der alte Assassine hat ihn entdeckt. Er spricht zu seinem Pferd, und der Wallach schnellt davon wie ein Pfeil. Er läßt die beiden schwerfälligen Verfolger weit hinter sich zurück, aber der Schecke hat inzwischen den Pfad erreicht und streckt sich gewaltig, um aufzuholen. Erst sieht es so aus, als könne Chade ohne Mühe entkommen, doch der Schecke ist frischer. Der Wallach kann sein gewaltiges Tempo nicht beibehalten, und der gleichmäßige Galopp des Schecken frißt langsam, aber sicher den Vorsprung auf. Der Abstand zwischen ihnen wird stetig geringer. Dann läuft der Schecke dicht hinter dem Wallach, Chade wendet sich im Sattel und hebt grüßend den Arm. Der fremde Reiter ruft etwas. Es ist eine Frau. Ihre Stimme klingt dünn in der frostigen Luft. »Für Veritas, den wahren König!« Sie wirft ihm einen Beutel zu und er ihr ein Päckchen. Gleich darauf trennen sie sich. Beide Pferde biegen vom Pfad ab und entfernen sich in entgegengesetzter Richtung. Die Hufschläge verhallen in der Nacht.
Die keuchenden Pferde der Verfolger sind schaumbedeckt, ihre Leiber dampfen in der Kälte. Die Reiter lassen die Tiere in Trab fallen und fluchen, als sie die Stelle erreichen, wo Chade und seine Verbündete sich getrennt haben. Gesprächsfetzen treiben durch die Luft. »Verfluchte Weitseherpartisanen!« und »Woher sollen wir wissen, wer es jetzt hat?« und schließlich: »... nicht zurück, um mir für diesen Schlamassel den Rücken gerben zu lassen.« Sie scheinen zu einer Einigung gekommen zu sein, denn sie lassen ihre Pferde verschnaufen und reiten dann langsam weiter, entgegengesetzt der Richtung, aus der sie gekommen sind.
Ich kehrte für einen Augenblick zu mir selbst zurück und bemerkte, daß ich lächelte, obwohl Schweiß mein Gesicht bedeckte. Die Gabe war stark in mir. Ich versuchte, mich zurückzuziehen, aber der Rausch des Wissens war zu süß. Was ich eben mitangesehen hatte, erfüllte mich mit Euphorie: Chades Entkommen und daß es Partisanen gab, die für Veritas’ Sache kämpften. Die Welt erstreckte sich endlos weit vor mir, verlockend wie ein Teller mit süßem Gebäck. Mein Herz brauchte nicht lange, um zu wählen.
Ein Kind schreit, ein endloses monotones Plärren. Meine Tochter. Sie liegt auf einem Bett, eingewickelt in eine Decke, auf der Regentropfen glitzern. Ihr Gesicht ist hochrot. Aus Mollys Stimme klingt eine erschreckende, mühsam beherrschte Gereiztheit, als sie sagt: »Sei still. Kannst du nicht endlich still sein!«
Burrichs Stimme, müde, aber bestimmt: »Sei nicht böse auf sie. Sie ist nur ein Kind. Wahrscheinlich hat sie Hunger.«
Molly steht mitten im einzigen Raum der Hütte, die Lippen zusammengepreßt, die Arme fest vor der Brust verschränkt, und die Haare hängen ihr in nassen Strähnen um das Gesicht. Burrich hängt seinen tropfenden Umhang auf. Sie sind alle zusammen irgendwo gewesen und eben zurückgekommen. In der Hütte ist es dunkel und kalt, nur ein Talglicht brennt. Burrich geht zum Kamin, kniet umständlich davor nieder und sucht Holz und Späne zusammen, um Feuer zu machen. Ich fühle die Spannung in ihm, und ich weiß, wie sehr er sich bemüht, Gelassenheit zu bewahren. »Versorg du die Kleine«, sagt er ruhig. »Ich bringe das Feuer in Gang und setze Wasser auf.«
Molly nimmt ihren Umhang ab, geht betont langsam zur Tür und hängt ihn neben Burrichs auf den Haken. Als wenn ich nicht wüßte, wie sehr sie es haßt, wenn jemand ihr sagt, was sie tun soll. Das Baby schreit weiter, eine unerbittliche, zermürbende Forderung. »Ich friere. Ich bin müde und hungrig und durchnäßt. Es ist Zeit für sie zu lernen, daß sie manchmal
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