Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
eben warten muß.«
Burrich beugt sich vor, bläst auf einen Funken und flucht, als er nicht wachsen will. »Auch sie friert und ist hungrig und müde und naß«, gibt er zu bedenken, ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen. »Und sie ist zu klein, um selbst etwas dagegen zu tun. Deshalb schreit sie. Nicht, um dich zu quälen, sondern um dir mitzuteilen, daß sie Hilfe braucht. Wie ein junger Hund, der winselt, oder ein piepsendes Küken. Sie tut es nicht aus böser Absicht.« Mit jedem Satz erhebt er die Stimme mehr.
»Sie ist viel zu verwöhnt. Meistens schreit sie nur, weil sie auf den Arm genommen werden will.« Molly stellt sich zum Kampf. »Nun, soll sie! Ich bin zu müde, um mich jetzt um sie zu kümmern. Ich habe nie mehr einen Augenblick für mich selbst, nicht einmal eine Nacht durchschlafen läßt sie mich. Immer nur das Baby füttern, das Baby waschen, das Baby wickeln und herumtragen. Etwas anderes gibt es nicht mehr in meinem Leben.« Ihr Ton ist kriegerisch, und ihre Augen funkeln wie früher, wenn sie ihrem Vater Widerworte gab, und ich weiß, sie rechnet damit, daß Burrich aufsteht und sich ihr drohend nähert, doch er bläst auf ein glimmendes Stück Rinde und sieht zu, wie eine schmale Flamme emporwächst und nach den Spänen greift. Er schaut sich nicht einmal nach Molly und dem bläkenden Kind um. Einen Zweig nach dem anderen legt er auf das winzige Feuer, und ich wundere mich, wie er nicht merken kann, daß Molly hinter ihm steht und vor Zorn fast birst. Ich wäre nicht so gelassen, wenn sie hinter mir stünde und diesen Ausdruck auf dem Gesicht hätte.
Erst als das Feuer richtig brennt, erhebt er sich, und auch dann wendet er sich nicht Molly zu, sondern geht an ihr vorbei zum Bett, als wäre sie nicht da. Ich weiß nicht, ob er merkt, wie sie sich darauf vorbereitet, ohne Zucken den Schlag hinzunehmen, den sie unbewußt von ihm erwartet. Es schneidet mir ins Herz, sehen zu müssen, wie ihr Vater sie fürs ganze Leben gezeichnet hat. Burrich neigt sich über die Kleine und redet beschwichtigend auf sie ein, während er die Decke aufwickelt. Beinahe mit Ehrfurcht sehe ich zu, wie er ihre Windeln wechselt. Er schaut sich um; dann nimmt er eines seiner Hemden, das über einer Stuhllehne hängt, und hüllt sie hinein. Sie schreit noch immer, aber weniger inbrünstig. Er legt sie an seine Schulter und benutzt die freie Hand, um den Topf mit Wasser zu füllen und ans Feuer zu setzen. Es ist, als wäre Molly nicht im Raum. Ihr Gesicht ist blaß geworden, und mit großen Augen schaut sie zu, wie Burrich Grütze abmißt. Als das Wasser noch nicht kocht, setzt er sich mit der Kleinen hin und tätschelt ihr gleichmäßig den Rücken. Das Schreien wird leiser, als würde das Kind der lautstarken Beschwerde müde.
Molly geht steif zu ihnen hin. »Gib sie mir. Ich werde sie jetzt stillen.«
Burrich hebt langsam den Kopf. Seine Miene ist ausdruckslos. »Wenn du dich beruhigt hast und sie nehmen willst, werde ich sie dir geben.«
»Gib sie mir jetzt! Sie ist mein Kind!« schnappt Molly und will nach ihr greifen. Burrich weist sie mit einem Blick in die Schranken. Sie tritt zurück. »Versuchst du, mich zu beschämen?« fragt sie schrill. »Sie ist meine Tochter. Ich habe das Recht, sie zu erziehen, wie ich es für richtig halte. Es ist unnötig, sie die ganze Zeit auf dem Arm zu tragen.«
»Das stimmt«, nickt er, macht jedoch keinerlei Anstalten, ihr das Kind zu überlassen.
»Du findest, ich bin eine schlechte Mutter. Aber was weißt du über Kinder, daß du mir vorschreiben willst, was ich tun soll?«
Burrich steht auf, knickt etwas ein, als das schlimme Bein nachgibt, fängt sich aber gleich wieder. Er nimmt den Becher Grütze, streut ihn in das brodelnde Wasser und rührt um. Dann legt er einen Deckel auf den Topf und zieht ihn an den Rand des Feuers. Während all dieser Verrichtungen hält er das Kind in der Armbeuge. Als er antwortet, geschieht es wohlüberlegt. »Vielleicht weiß ich nicht viel über Kinder, aber ich kenne mich aus mit jungen Geschöpfen. Fohlen, Welpen, Kälbern, Ferkeln. Sogar Wildkatzen. Ich weiß, wenn man will, daß sie einem vertrauen, berührt man sie oft, solange sie klein sind. Sanft, aber fest, damit sie auch an deine Kraft glauben.«
Er erwärmt sich für sein Thema. Ich habe diesen Vortrag schon hundertmal gehört. Meistens diente er zur Belehrung ungeduldiger Stallburschen. »Man schreit sie nicht an oder macht plötzliche Bewegungen, die drohend wirken. Man
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