Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
nächsten Züge machen.«
Im selben Augenblick erkannte ich plötzlich die Lösung für die Aufgabe, die Krähe mir gestellt hatte. Sie war so einleuchtend, daß ich mich fragte, wie ich sie hatte übersehen können. Dann wußte ich es. Jedesmal, wenn ich die Anordnung der Figuren betrachtet hatte, hatte ich mich gewundert, wie ein solches erbärmliches Chaos hatte entstehen können. Ich hatte nichts anderes gesehen als all die sinnlosen Züge, die meinem vorausgegangen waren, aber diese Züge waren nicht mehr von Bedeutung, sobald ich den schwarzen Stein in der Hand hielt. Ein versonnenes Lächeln krümmte meine Mundwinkel. Ich rieb mit dem Daumen über den schwarzen Stein.
»Wo wir heute sind«, wiederholte der Narr, und ich fühlte in ihm eine Stimmung ähnlich der meinen.
»Kettricken sagte, möglicherweise wärst du nicht krank. Dieser Zustand sei – eine Eigenheit von deinesgleichen.« Es war mir unangenehm, diese Frage anzusprechen, und sei es noch so behutsam.
»Das könnte sein. Glaube ich. Schau her.« Er zog den Fäustling aus. Dann hob er die Hand und zog die Fingernägel über die Wange. Trockene weiße Striemen entstanden. Er rieb daran, und die Haut schilferte ab. Auf dem Handrücken löste sie sich in großen Schuppen wie von aufgeplatzten Blasen.
»Das sieht aus wie nach einem Sonnenbrand. Könnte es am Wetter liegen, dem du ausgesetzt warst?«
»Auch das ist möglich. Nur, wenn es so ist wie beim letzten Mal, wird es ganz schrecklich anfangen zu jucken, und ich schäle mich am ganzen Körper. Und hinterher hat meine Haut etwas mehr Farbe. Siehst du eine Veränderung an meinen Augen?«
Obwohl ich ihn gut und lange kannte, fiel es mir noch immer nicht leicht, seinem Blick zu begegnen. Hob diese farblose Iris sich ein wenig deutlicher von dem Weiß des Augapfels ab? »Ich kann es nicht genau beurteilen, aber es könnte sein, daß sie eine Spur dunkler geworden sind. Wie ein Glas Ale, das man gegen das Licht hält. Wie geht es weiter? Wirst du immer wieder solche Anfälle haben und mehr Farbe bekommen?«
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Wie kannst du das nicht wissen? Wie haben denn deine Eltern ausgesehen?«
»Wie du, natürlich. Wie Menschen. Irgendwo in meiner Ahnenreihe befand sich ein Weißer. In mir hat dieses alte Erbe sich wieder manifestiert, was äußerst selten vorkommt. Doch ich bin zum gleichen Teil ein Mensch. Hast du gedacht, jemand wie ich wäre alltäglich bei meinem Volk? Ich habe es dir gesagt – ich bin eine Ausnahme, auch unter jenen, in deren Adern das gleiche gemischte Blut fließt. Glaubst du denn, Weiße Propheten würden in jeder Generation geboren? Nein. Innerhalb meiner Lebensspanne bin ich der einzige.«
»Aber konnten nicht deine Lehrer mit all diesen Aufzeichnungen, die ihnen zur Verfügung standen, dir sagen, was dich erwartete?«
Er lächelte, doch seine Stimme verriet Bitterkeit. »Meine Lehrer waren zu sehr davon überzeugt, daß sie genau wußten, was zu erwarten war. Sie wollten die Fortschritte meiner Studien nach eigenem Gutdünken bestimmen. Sie wollten entscheiden, was mir an Wissen vermittelt werden sollte und wann. Als meine Prophezeiungen anders ausfielen, als sie es geplant hatten, waren sie nicht zufrieden mit mir. Sie versuchten, meine eigenen Worte für mich auszulegen! Es hat andere Weiße Propheten gegeben, doch als ich ihnen begreiflich zu machen versuchte, ich sei der Auserwählte für diese Epoche, konnten sie es nicht hinnehmen. Eine Schrift nach der anderen legten sie mir vor, um mir meine Anmaßung deutlich zu machen. Doch je mehr ich las, desto sicherer war ich, recht zu haben. Ich versuchte ihnen zu sagen, daß meine Zeit fast gekommen war. Sie wußten nichts anderes, als mir zu raten, ich solle warten und meine Studien vertiefen, um vollkommene Gewißheit zu erlangen. Wir haben uns nicht unbedingt im besten Einvernehmen getrennt. Ich nehme an, sie waren ziemlich perplex, daß ich in so jungen Jahren in die weite Welt hinausging, obwohl ich es seit Jahren prophezeit hatte.« Er schenkte mir ein merkwürdig entschuldigendes Lächeln. »Vielleicht, wenn ich geblieben wäre, um meine Lehrjahre zu beenden, wüßten wir heute genauer, wie die Welt zu retten ist.«
Mir sank der Mut. Die ganze Zeit hatte ich mich darauf verlassen, daß wenigstens der Narr wußte, wohin all unser Streben führte. »Wieviel weißt du wirklich von dem, was auf uns zukommt?«
Er atmete tief ein und stieß einen
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